Kategorie: Diverses
Titanics tragische Schwester
Es gibt nicht viele Wracks, welche die Phantasie beflügeln. Die HMHS Britannic gehört jedoch zweifellos dazu. Um sie zu beschreiben, genügt ein einziger Satz: „Sie ist das Schwesterschiff der Titanic“. Auch die Britannic hat zwei Leben gehabt: Eines als Göttin der Meere, eines als Wrack. Denn anders als die Titanic liegt sie noch in Tiefen, die technische Taucher gut erreichen können – und ihr Zustand ist deutlich besser als der ihrer berühmteren Schwester.
Bericht von Linus Geschke
Teil 1: Damals
Die Britannic war nach der Olympic und der Titanic das dritte Schiff einer Reihe, die von der Belfaster Werft Harland & Wolff auf Kiel gelegt wurde. Als die Britannic am Vorabend des Weihnachtstages 1915 ihre Indienststellung feierte, lag der Untergang ihres Schwesterschiffes Titanic bereits mehr als drei Jahre zurück. Diese Jahre waren von den Schiffsbauern gut genutzt worden. Sämtliche durch den Titanic-Untergang gewonnenen Erkenntnisse hatte man in den Bau der Britannic einfließen lassen. Die Anzahl der Rettungsboote war größer, die Davits länger, die Schottwände waren verstärkt und weiter hochgezogen und der Kernbereich des Schiffes mit einer doppelten Außenhülle versehen. Sicherheit stand über allem, erst dann kam der Luxus, der jenen der Titanic noch übertreffen sollte. Wenn sie dann den Atlantik überqueren würde, da waren sich die Eigner der Reederei White Star Line sicher, würde sie schnell zur Königin der Route werden. 269 Meter lang, 48.000 Bruttoregistertonnen schwer, 22 Knoten schnell, eine strahlende Göttin unter stolz dampfenden Schornsteinen. „Rulez, Britannic“, haben sie gerufen. Es sollte nie so kommen.
Denn anders als ihrem berühmten Schwesterschiff war es der Britannic nie vergönnt, Passagiere in edler Abendgarderobe über den Atlantik zu befördern. Kein Orchester hat jemals die Decks beschallt, keine Multimillionäre ihre Gin Tonics beim Sonnenuntergang auf dem Promenadendeck genossen. Unmittelbar nach der Indienststellung wurde sie bereits von der britischen Admiralität requiriert und als Hospitalschiff im Ersten Weltkrieg eingesetzt, wo Blut und Tränen den Glanz einer im Untergang begriffenen Epoche verdrängten. So auch am 21. November 1916, als der Ozeanriese von Southampton aus kommend unterwegs nach Mudros war, um 2500 verletzte Soldaten der Dardanellen-Schlacht aufzunehmen. Über 1000 Menschen waren bereits an Bord – die Schiffscrew, Ärzte und unzählige Krankenschwestern –, als die Britannic kurz nach acht Uhr morgens den Kanal zwischen den Inseln Kea und Makronisos durchquerte und an Bord gerade der geplante Wachwechsel stattfand. Niemand von der Crew ahnte, dass das Schiff eine Stunde später nicht mehr existieren wird.
Der aus Hamburg stammende Kapitänleutnant Gustav Sieß war das, was man in Kriegstagen wohl einen erfolgreichen Mann nannte. Als Kommandant von SM U-73 – einem 56 Meter langem und im Marinestützpunkt Pola stationierten Unterseeboot, welches mit 745 Tonnen lediglich anderthalb Prozent des Gewichtes der Britannic erreichte – hatte er das Minenfeld gelegt, dem siebe Tage zuvor auch der 183 Meter lange und 12481 Bruttoregistertonnen schwere französische Truppentransporter SS Burdigala zum Opfer gefallen war. Eine einzige Mine hatte dafür genügt, und andere warteten immer noch, an Ankerseilen unter der Wasseroberfläche befestigt. Sie waren eine ebenso unsichtbare wie tödliche Waffe; selbst für eines der größten Schiffe aller Zeiten!
Um acht Uhr zwölf erschütterte ein gewaltiger Schlag den Rumpf der Britannic. Eine Mine, ein Torpedo? Durch ein großes Leck auf der Steuerbordseite strömte Wasser ins Innere des Schiffes. Kapitän Bartlett versuchte noch, Kea anzusteuern, um dort sein Schiff in einer seichten Bucht auf Grund zu setzen. Aber es war zu spät. Um 8.35 Uhr gab der Kapitän Befehl, das sinkende Schiff zu verlassen. Eine halbe Stunde später versank die Britannic in der Ägäis. Die 1066 Menschen an Bord konnten rechtzeitig in die Rettungsboote gehen, von denen allerdings eines mitsamt seinen Insassen von einer der drei riesigen Schiffsschrauben der "Britannic" regelrecht zermalmt wurde. 30 Menschen starben. Die Überlebenden wurden von herbeigeeilten britischen Kriegsschiffen und Fischern gerettet. Kapitän Bartlett, der bis zum Untergang auf der Brücke ausgeharrt hatte, verließ als letzter das Schiff und schwamm bis nach Kea. Trotz aller baulichen Verbesserungen war die Britannic deutlich schneller gesunken als ihr Schwesterschiff Titanic – die Frage nach dem Warum wird lange zu den Mysterien gehören, die sich um das Schiffswrack ranken.
Teil 2: Heute
Im malerischen Hafen von Vourkaki schleppt Wracktaucher Derk Remmers sein Equipment an Bord eines kleinen Schiffes. Trockentauchanzüge, Rebreather, unzählige Flaschen. Wenig daran erinnert an eine normale Tauchausfahrt, von außen betrachtet wirkt es eher wie eine militärisch geplante Aktion. „Ein Abstieg zur Britannic – das ist schon eine Aufgabe“, sagt Remmers und fährt sich über die kurzen, graumelierten Haare. „Mit dem bekannten Sporttauchen hat das nichts mehr zu tun. Außer vielleicht, dass bei beidem die Ausrüstung nass wird.“
Zusammen mit Politikern, Journalisten und Experten haben er und andere Wracktaucher sich auf Kea zu einer Konferenz getroffen, um über die Britannic zu sprechen. Über den Untergang, den heutigen Zustand und darüber, wie man das Wrack zukünftig touristisch nutzen könnte. „Mein Traum ist es, einen Unterwasserpark zu errichten“, sagt Jiannis Tsavelákos von der Tauchbasis Kea Divers. „Zusammen mit der 183 Meter langen SS Burdigala, einer Junkers52 und drei weiteren Wracks, die fast unbeschädigt auf dem Meeresgrund ruhen, haben wir ein einzigartiges Tauchgebiet direkt vor der Haustür.“
Mehr als ein Dutzend Redner geben sich die Mikrofone in die Hand, und jeder hat seine ganz eigene Vorstellung die Zukunft betreffend. Der für die Region zuständige Minister träumt von höheren Touristenzahlen. Byron Riginos, Vorsitzender im Verein der Inselfreunde, hat bereits Pläne für ein Museum ausgearbeitet. Fast kommt es einem so vor, als ruhten die Hoffnungen der ganzen Insel auf einem gesunkenen Schiffswrack und auf dieser Konferenz. Sie soll eine Geschichte bekannt machen, die bisher nahezu unbekannt ist, und eine Insel ins Licht der Medien rücken, deren Schönheit bislang im Verborgenen blüht.
Das Problem dabei ist: Die Britannic liegt tief. Gut 120 Meter, um genau zu sein. 20 Minuten am Wrack erkauft man sich mit knapp drei Stunden Aufstiegszeit, für jede weitere Minute unten muss man mindestens 20 zusätzliche bei der Dekompression einplanen. Auch die Bedingungen sind schwer kalkulierbar: Manchmal liegt das Mittelmeer so glatt da, als hätte es jemand mit Öl überzogen, dann wieder kabbeln sich die Wellen. Strömungen können jederzeit auftreten und über drei Knoten Geschwindigkeit erreichen – zu viel, um einen solchen Tauchgang noch sicher absolvieren zu können. Und dennoch versuchen es viele, Jahr für Jahr. Ein Vorhaben, welches meist schon an den Genehmigungen scheitert. Wer an der Britannic tauchen will, braucht die Zustimmung der griechischen Regierung und die des britischen Autors und Dokumentarfilmers Simon Mills – er hat das Wrack 1996 für 15.000 Pfund gekauft. „Ich habe das gemacht, um das Schiff zu schützen, beispielsweise vor Plünderungen“, berichtet er. „Inzwischen geht es mir aber vor allem darum, ihre Geschichte aufzuarbeiten und die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen.“
Was nicht so einfach ist: Zum einen gilt die Britannic als Kriegsgrab, zum anderen fallen Schiffe, die vor mehr als 50 Jahren gesunken sind, in Griechenland unter archäologischen Schutz. Man will Plünderungen verhindern und die negativen Erfahrungen, die man in der Vergangenheit mit Tauchern an antiken Wracks gemacht hat, zukünftig unbedingt vermeiden. Archäologische Bedenken gegen touristische Interessen also – und es ist vollkommen ungewiss, wer sich am Ende durchsetzen wird.
Derk Remmers ist vielleicht wie kaum ein anderer dafür prädestiniert, die Britannic zu betauchen. Er ist auf der Nordseeinsel Norderney großgeworden, hat bei der Marine auf der Fregatte Emden gedient, das Wrack des Kleinen Kreuzers „Wiesbaden“ wiedergefunden und andere versunkene Großkampfschiffe der Skagerrak-Schlacht betaucht. Rund 400 Rebreather-Tauchgänge hat der 44-jährige GUE-Instructor mittlerweile hinter sich gebracht, der Respekt ist geblieben. Nicht nur vor der Tiefe an sich, sondern auch vor dem Schiff, welches dort unten auf ihn wartet. „Nachdem Jaques-Yves Cousteau das Wrack 1976 lokalisiert und zum ersten Mal betaucht hat, ist die Britannic wieder in eine Art Dornröschenschlaf versunken“, erzählt er. „Die durchgeführten Expeditionen dorthin lassen sich noch immer an zwei Händen abzählen. Ich bin wirklich froh und dankbar, dass ich im Rahmen der Konferenz die Möglichkeit erhalte, zu den wenigen zu gehören, die diese Ikone mit eigenen Augen gesehen haben.“ Dann konzentriert er sich wieder auf seine Vorbereitungen. Spricht sich mit den anderen Teilnehmern ab, lacht, und irgendwie schwingt in diesem Lachen auch immer eine Spur Aufregung mit.
Treffen der Experten
Auch Richie Kohler gehört zu den Teilnehmern der Konferenz. Der Amerikaner zählt zu den berühmtesten Wracktauchern überhaupt, alleine seine Entdeckung und Identifizierung von „U-Who“ als U-869 sorgte weltweit für Schlagzeilen – ein deutsches U-Boot vor der Küste New Jerseys, welches laut allen Unterlagen nie dort hätte liegen dürfen. Kohler ist zudem einer der wenigen, die mit einem Forschungs-U-Boot schon an der Titanic waren. Er berichtet den Teilnehmern von den Abstiegen, von dem Anblick und dem Gefühl, das ihn dabei jedes Mal überkommen hat. „Die Britannic ist dennoch das deutlich schönere Wrack“, sagt er, „alleine schon wegen des besseren Zustands.“
2013 gelang es Kohler im Rahmen einer National Geographic-Expedition, Licht in das Rätsel des schnellen Untergangs zu bringen. Er tauchte durch einen Riss im Bug tief ins Innere der Britannic. In den ehemals für die Maschinisten gedachten Gängen fand er heraus, dass sämtliche Schotttüren offenstanden, wahrscheinlich eine Folge des kurz vor dem Untergang stattgefundenen Wachwechsels. Auch zahlreiche Bullaugen waren – anders, als von der britischen Admiralität in Kriegszeiten angeordnet – geöffnet. „Sie war ein fantastisches Schiff“, sagt er nachdenklich. „Und wie so oft war es nicht die Technik, die versagt hat, sondern der Mensch, der sie bediente.“
Eine Einstellung, die Derk Remmers teilt – nicht nur, was Schiffsuntergänge angeht. „Ich halte Tauchgänge wie den zur Britannic nicht aufgrund der notwendigen Technik und des Equipments für gefährlich. Am meisten Angst habe ich vor mir selbst. Davor, dass sich irgendwann eine Routine einschleicht, die mich wichtige Dinge übersehen lässt. Davor, dass ich bei der Vorbereitung und Planung Fehler mache. Der größte Risikofaktor bei derartigen Unternehmungen immer noch der Mensch.“
Eine halbe Stunde später ist Remmers nicht mehr da. Verschwunden unter einer azurblauen Meeresoberfläche, die ihn die nächsten dreieinhalb Stunden nicht mehr hergeben wird. Er ist jetzt Teil eines Teams, deren Mitglieder zwar gemeinsam musizieren, aber als Solo spielen. Jeder ist nun auf sich selbst fokussiert – und auf den stählernen Giganten, der sich ab 70 Meter Wassertiefe aus dem Blau der Ägäis zu schälen beginnt. Rund 20 Minuten haben sie dort unten; die meisten benutzen einen Scooter, um in der kurzen Zeit wenigstens einen Teil des Schiffes sehen zu können.
„Der Abstieg zur Britannic war ein überwältigendes Erlebnis“, wird Remmers später berichten, nachdem er seine Ausrüstung abgelegt und ein paar Minuten lang durchgeatmet hat. „Sie liegt auf der Steuerbordseite und weist bis auf den abgeknickten Bug praktisch keine Beschädigungen auf. Reling, Kapitänsbrücke, Inneneinrichtung – alles noch intakt. Als Taucher kommt man sich angesichts ihrer Größe wie eine Fliege vor, die auf einem Wal landet.“
Es sind Bilder von mystischer Schönheit, die die Taucher aus der Tiefe mit nach oben bringen. Man sieht kunstvoll angefertigte Wandfliesen, die Badewanne des Kapitäns, die ins Freiwasser ragenden Schiffspropeller. Eine Wendeltreppe verschwindet in der Tiefe, die Schnitzereien des Salons leuchten im Licht der Taucherlampen. Viele Fische tummeln sich am Wrack, nutzen die Aufbauten als Zufluchtsorte. Eindrücke einer versunkenen Welt, die uns ferner erscheint als der Mond. „Die Britannic ist wunderschön“, sagt Remmers, der dabei klingt, als würde er von einer besonders attraktiven Frau sprechen. „Und ihr Anblick verursacht einem nichts als Ehrfurcht.“
Auf Kea diskutieren sie derweil weiter. Der Bürgermeister, die Wracktaucher, all die ganzen Offiziellen. Sie bringen Ideen ein und verwerfen sie wieder. Überlegen hin und her. Hier, direkt vor der Küste ihrer Insel, ist eines der großartigsten Schiffe gesunken, welches jemals die Weltmeere befuhr...
Siehe auch:
100 Jahre Schiffswracks vor Kea
Kea Divers
Video Dokumentation/Reportage "Untergang Britannic"
Beispiel Wrack Tauchplätze, Kea:
HSHM Britannic
S/S Patris
S/S Kaiser Friedrich - Burdigala