01.08.2012 14:56
Kategorie: Diverses
Kategorie: Diverses
Romane, in denen Taucherinnen oder Taucher vorkommen, gibt es viele. Meist tragen diese Roman-Taucher "Sauerstoffflaschen" auf dem Rücken und sind ständig in Gefahr, von blutrünstigen Haien zerfleischt zu werden. Juli Zehs jüngst erschienener Roman gehört nicht in diese Reihe. "Nullzeit" wurde von einer Autorin geschrieben, die etwas vom Thema versteht, die selber begeisterte Taucherin ist, wie sie im Interview berichtet.
Rezension von Michael Grüttner
Seit dem Erscheinen ihres Erstlingswerkes "Adler und Engel" (2001) gehört Juli Zeh zu den profiliertesten und international erfolgreichsten deutschen Autoren der jüngeren Generation. Ihre Romane sind in 35 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Dass sie es geschafft hat, daneben noch eine preisgekrönte juristische Doktorarbeit zu schreiben, eine Verfassungsbeschwerde gegen den biometrischen Reisepass einzureichen, zahlreiche Artikel zu Fragen der aktuellen Politik zu publizieren und (last but not least) tauchen zu lernen, zeugt von einer schier unglaublichen Leistungskraft. Die FAZ ernannte sie kürzlich bereits zur "neuen Gruppe 47 als Ein-Personen-Betrieb". In einem Land wie Deutschland ruft solche Produktivität nicht nur Bewunderung hervor.
Interview
DiveInside: Ist mein bei der Lektüre von „Nullzeit“ entstandener Eindruck richtig, dass du selber Sporttaucherin bist und das Tauchen mit einer gewissen Leidenschaft betreibst?
Juli Zeh: Ich tauche noch nicht lange, seit ungefähr zwei Jahren, und habe erst 30 Tauchgänge im Logbuch. Bin aber begeistert bei der Sache! Momentan mache ich den AOWD.
DI: Du beschreibst in deinem Buch zwei unterschiedliche Typen von Tauchanfängern: Die einen reagieren mit einem Gefühl großer Euphorie auf die neue Erfahrung, während die anderen sich unbehaglich fühlen und schnell wieder an Land wollen. Zu welcher dieser beiden Gruppen gehörtest du?
JZ: Leider zur zweiten. Ich muss zugeben, dass ich lange Angst vor dem Tauchen hatte, obwohl ich so begeistert bin. An manchen Tagen fühlte ich mich, als hätte man mich im Weltraum ausgesetzt. Aber ich wollte unbedingt weitermachen, und inzwischen fühle ich mich wohl. Mein Mann hatte diese Schwierigkeiten nicht. Manchmal denke ich, dass es uns Frauen schwerer fällt, der Technik zu vertrauen, von der man unter Wasser abhängig ist.
DI: Was macht für dich den spezifischen Reiz des Tauchens aus? Das Gefühl der Schwerelosigkeit? Das Naturerlebnis? Das Tauchen als Abenteuer?
JZ: Zum einen ist es das Naturerlebnis. Ich bin auch über Wasser ein Tier- und Natur-Fan. Es fasziniert mich sehr, dass man den Lebewesen unter Wasser in ihrer natürlichen Umgebung so nahe kommen kann. Zum anderen scheint mir jeder Tauchgang wie eine Zeitreise an den Beginn allen Lebens. Irgendwie fangen auch wir Menschen ja immer noch so an: im Wasser schwebend und stumm.
DI: Gibt es Tauchplätze oder Tauchgänge, die dir in besonderer Erinnerung geblieben sind?
JZ: Der Tauchplatz Charco del Palo auf Lanzarote ist bislang mein Lieblingsspot. Die Formationen aus Lavagestein sind wunderschön, wie eine Märchenstadt unter Wasser. Oben ist allerdings ein FKK-Strand, da fühlt man sich im Tauchanzug ein bisschen fehl am Platz.
DI: Dein Buch erreicht seinen dramatischen Höhepunkt mit einem Geburtstagstauchgang des Tauchlehrers Sven zu einem neu entdeckten Wrack, das auf 100 Meter Tiefe liegt. Kannst du dir vorstellen, irgendwann einmal selber einen solchen Tauchgang in Angriff zu nehmen?
JZ: Vorstellen kann ich es mir noch nicht, aber wünschen schon!
DI: Hast du Pläne, wie es weitergehen soll mit dem Tauchen? Gibt es Plätze, die du in den nächsten Jahren unbedingt betauchen willst?
JZ: Als nächstes würden wir gern im Oman tauchen. Das Land interessiert mich auch über Wasser sehr.
Das Interview für DiveInside führte Michael Grüttner
"Nullzeit" lebt von der Konfrontation zweier ganz unterschiedlicher Lebenswelten. Der abgebrochene Jurist Sven ist vor 14 Jahren nach einer als traumatisch empfundenen Examensprüfung aus Deutschland geflüchtet und hat sich in einer abgelegenen Ecke von Lanzarote als Tauchlehrer niedergelassen: Für Sven i s t "Deutschland" zum "Kriegsgebiet" geworden, mit dem er nichts mehr zu tun haben will; es ist "der Name eines Systems, in dem es nur darum ging, was wem gehörte und wer woran schuld war." Sein neues Leben beruht auf der "Entscheidung, mich aus fremden Angelegenheiten herauszuhalten." Die Gegenwelt des Aussteigers Sven, in der er sich wohlfühlt, ist die schweigende Welt unter Wasser: "UnterWasser waren die Beziehungen einfach, Bedürfnisse eindeutig und Reaktionen radikal ... Ohne Sprache keine Begriffe. Ohne Begriffe keine Begründungen, ohne Begründungen kein Krieg. Ohne Krieg keine Angst."
Mit Sven lebt seine Jugendfreundin Antje, die ihm nicht mehr von der Seite weicht, seitdem er vor vielen Jahren einmal "versehentlich" mit ihr geschlafen hat. Sie kümmert sich um den Bürokram und hält den Kontakt zur Außenwelt, so dass Sven sich ganz aufs Tauchen konzentrieren kann. Aber Antje, die in dem Buch eher blass bleibt, ist mehr treue Seele als Lebensgefährtin. Eine intensivere Beziehung hat Sven, so scheint es, nur zu dem Gecko Emil, der so gern den Monitor seines Computers als Jagdrevier nutzt. In diese geregelte, etwas einsame Existenz tritt zu Beginn des Buches ein Glamourpaar, das schon bei der Ankunft im Flughafen für Aufsehen sorgt: die attraktive Schauspielerin Jola und der Schriftsteller Theo.
Jola bringt es bei Google auf 384.000 Treffer, darunter etliche Fan-Seiten. Theo ("lebt in Berlin, Stuttgart, New York") hat ein Erstlingswerk vorgelegt, das von der Literaturkritik als "irritierendes Glanzstück" beschrieben wurde. Doch die glamouröse Fassade wird schnell brüchig. Jola und Theo sind einander in einer zerstörerischen Hassliebe verbunden, die nicht nur in gegenseitigen Demütigungen, sondern auch in physischer Gewalt ihren Ausdruck findet.
Theo entpuppt sich als Zyniker mit starkem Drang zum Alkohol, der seit vielen Jahren nichts mehr publiziert hat: "Jola nennt es Schreibkrise, ich nenne es Geduld." Jola wiederum ist zwar mit ihrer Rolle in der Telenovela "Auf und Ab" (abgekürzt AuA) zu Ruhm gelangt, strebt aber schon fast verzweifelt nach Höherem. Eine richtige Spielfilmrolle muss so schnell wie möglich her, um nicht in ewiger Seichtigkeit unterzugehen. Ihr großes Ziel ist es, in einem geplanten Spielfilm über Lotte Hass die Hauptrolle zu übernehmen ("Lotte ist meine letzte Chance").
Als Vorbereitung auf das Casting soll Sven den beiden innerhalb von zwei Wochen das Tauchen beibringen und sie für eine stattliche Summe rund um die Uhr bespaßen. Die sich in den folgenden Tagen über und unter Wasser entwickelnde Dreiecksbeziehung zwischen Sven, Jola und Theo erreicht ihren Höhepunkt mit einem 100-Meter- Tauchgang Svens zu einem neu entdeckten Wrack. Was als Feier seines 40. Geburtstages geplant war, endet mit einem Mordversuch. Diese Entwicklung wird zunächst aus der Perspektive des Tauchlehrers geschildert, dann durch Auszüge aus Jolas Tagebuch ergänzt. Beide Texte weichen voneinander ab und widersprechen sich schließlich in entscheidenden Punkten. Obwohl es dafür keinen logischen Grund gibt, neigt man als Leser unwillkürlich dazu, die Perspektive des Ich-Erzählers Sven zu übernehmen, weil das Buch mit dessen Bericht beginnt. Wer aber am Ende des Buches sicher sein will, "wie es wirklich gewesen ist", wird möglicherweise enttäuscht sein.
Textauszug
(...) In kaum drei Metern Tiefe knieten wir am Grund. Sie atmeten beide etwas zu hastig und hielten den Lungenautomaten mit einer Hand, als könnte er ihnen sonst aus dem Mund fallen. Aber für Anfänger war das normal. Die meisten Kunden erlebten einen kleinen Schock, wenn sie zum ersten Mal unter Wasser atmeten. Danach schieden sich die Geister. Die einen durchliefen eine unglaubliche Euphorie, eine Art geistigen Orgasmus, ausgelöst durch die Tatsache, dass sie dem feindlichen Element mithilfe der Technik ein Schnippchen schlugen. Vollständig eingeschlossen von Wasser und trotzdem frei atmend wie ein Fisch. Zu Gast in einem fremden Universum. Die anderen fühlten sich unwohl. Sie spürten, dass sie nicht in diese Welt gehörten, trauten dem Apparat nicht, der sie mit Sauerstoff versorgte, und wurden von dem Gefühl bedrängt, sofort an die Oberfläche zurückkehren zu müssen. Solchen Menschen fehlte unter Wasser die Ruhe. Nur mit viel Übung wurden aus ihnen gute Taucher.
Mir war sofort klar, wer von beiden in welche Kategorie gehörte. Auf Theos Gesicht erkannte ich trotz der Maske ein strahlendes Lächeln. Seine Knie berührten den Grund nur leicht, er war bereits dabei, sich der Schwerelosigkeit zu überlassen. Sein Blick folgte einem Papageienfisch, der langsam näher kam, uns musterte, noch einmal prüfend in Theos Brille schaute und sich schließlich in Richtung der erstarrten Lavaströme entfernte. Ich wusste, was Theo empfand. Einen der glücklichsten Momente seines Lebens. (...)
Beziehungskiste und Psychothriller
"Nullzeit" ist, so formuliert es die Autorin, sowohl "eine Beziehungskiste" als auch ein "Psychothriller". Darüber hinaus handelt das Buch auch von der Freude der Autorin an der Unterwasserwelt, die sie in den vergangenen zwei Jahren für sich entdeckt hat. Und schließlich ist es ein Roman über die Möglichkeit und die Grenzen des Aussteigens aus einer Gesellschaft, deren Regeln vielen nicht mehr einleuchten – ein Thema, das in den 1970er Jahren schon einmal mit großer Vehemenz diskutiert wurde.
Auf die klassische Deutschlehrerfrage "Was will uns der Dichter damit sagen?" hat Juli Zeh in der Vergangenheit die Antwort "gar nichts!" gegeben. Zumindest für "Nullzeit" trifft diese Antwort nicht mehr zu. Zehs Botschaft lautet: Aussteigen ist keine wirkliche Option, weil die Probleme, vor denen der Aussteiger flüchtet, ihn selbst auf einer abgelegenen Insel wieder einholen. Und so verlässt Sven am Ende Lanzarote, verkauft seine Tauchbasis und kehrt nach Deutschland zurück. Ob dies eine plausible oder gar zwingende Entscheidung ist, kann jeder Leser nach Lektüre der 256 Buchseiten selber entscheiden.
Fazit
"Nullzeit" ist ein gut geschriebenes, spannend konstruiertes Buch, dessen Verfasserin eine besondere Begabung für prägnante Formulierungen hat. Es ist ein Roman, der gewiss nicht in erster Linie für Taucher geschrieben wurde, aber allen Tauchern unbedenklich zur Lektüre empfohlen werden kann.