Kategorie: Medizin
Chronologie eines Tauchunfalls
August 2019 Klinik Split, Kroatien: Stefan liegt auf einer Intensivstation in einem fremden Land. Sein Gesundheitszustand ist ungewiss, er ist nicht bei Bewusstsein. Eine Druckkammerfahrt war bisher nicht möglich, da nur Patienten mit stabilen Vitalzeichen in die Druckkammer eingeschleust werden. Eine Bildgebung von Gehirn und Lunge würde nicht gut aussehen, heißt es. Die Kommunikation ist aufgrund von Sprachproblemen schwierig. Niemand weiß etwas Genaues. Stefans Frau ist voller Sorge um das Leben ihres Gatten auf dem Weg nach Split...
Bericht bereitgestellt von aqua med
Ein Tag zuvor: Kornaten, Nähe Murter. Stefan ist ein erfahrener Taucher. Der Biologe hat während seiner Studienzeit sogar den Lehrgang zum Forschungstaucher absolviert. Auch wenn die Tauchgänge heute nur Freizeittauchgänge sind, der Biologe in Stefan ist immer mit an Bord. Er kennt die meisten Tauchplätze in diesem Gebiet. Letztes Jahr konnte er hier Caulerpa racemosa Algen in 50 m Tiefe nachweisen (eine Algenart, die aus dem Indopazifik in das Mittelmeer eingeschleppt worden ist und dort andere Lebewesen verdrängt). Heute möchte er versuchen, diese Alge wiederzufinden. Um 09:40 Uhr tauchen er und sein Buddy ab, um 38 Minuten später nach einer Deko auf 6 und 3m wieder aufzutauchen. Die maximale Tauchtiefe beträgt 59m mit Luft als Atemgas (pN2 = 5,45 bar; pO2 = 1,45 bar). In dieser Tiefe wird der Stickstoff zunehmend problematisch. Dies hat jedoch im geschilderten Fall nicht zum Unfallgeschehen beigetragen.
Um 11:33 Uhr taucht Stefan nach einer Oberflächenpause von 1,15 Std. nochmals ab. Dies ist zwar eine kurze Oberflächenpause, wird jedoch vom Tauchcomputer nicht als Verstoß bewertet. Die Tauchtiefe beträgt diesmal 50 m.
Obwohl sein Computer nur eine Dekopflicht von 3 Minuten auf 3m anzeigt, verlängert er aus einem Gefühl der Erfahrung heraus die Deko und den Sicherheitsstop. Doch nach dem Auftauchen geht es Stefan nicht gut. Er wird sich an diesen Tauchgang erst nach einiger Zeit und nur teilweise wieder erinnern können. An Bord erhält er sofort Sauerstoff und wird an Land den Rettungskräften übergeben, die ihn in das Krankenhaus Sibenik fahren, von wo aus er noch am selben Tag zur Druckkammer nach Split gebracht wird. Doch Stefan geht es mittlerweile so schlecht, dass er nicht in der Kammer rekomprimiert werden kann. So wird er auf die Intensivstation in Split verlegt. Die Tauchausrüstung wird von der Polizei beschlagnahmt, es gab jedoch keine technischen Mängel, der Computer zeigt keine nennenswerten Verstöße an. Stefan hat also nichts falsch gemacht, oder? Laut Computer war alles ok.
Die Frage ist, ob das oben dargestellte Verhalten von Stefan, das nicht den Empfehlungen für sicheres Sporttauchen entspricht, zum Unfall geführt hat? Viele „Nicht-Sporttaucher“ tauchen außerhalb der „Regeln“ tiefer, länger und bei manchen Tauchgängen auch allein. Eine Missachtung gängiger „Sporttauchregeln“ führt also nicht automatisch zu einem Tauchunfall, wird jedoch nicht empfohlen. Stefan ist ein erfahrener Taucher und hat sich an die Vorgaben seines Tauchcomputers gehalten, warum also dieser schwere Tauchunfall?
Aber der Reihe nach… die Taucherärzte von aqua med werden per Anruf auf der Notrufhotline noch am Unfalltag von der Tauchbasis verständigt und beginnen damit den Unfallhergang medizinisch einzuordnen, die für Stefan zuständigen Ärzte im Krankenhaus zu kontaktieren und die Behandlungsabläufe zu koordinieren. Stefan kann nicht in die Druckkammer gebracht werden, da die meisten Kammern im Ausland keine Möglichkeit haben, beatmete Patienten zu behandeln. Die Taucherärzte und das Assistance-Team von aqua med prüfen daher die Möglichkeit eines Rücktransportes von Stefan, um ihn in Deutschland in einer Druckkammer mit Beatmung behandeln zu lassen. Nach sorgfältiger Abwägung durch die Ärzte wird das Risiko eines Transportes allerdings erheblich größer als der Nutzen der Druckkammerbehandlung vor Ort eingeschätzt. Doch kurz nach der Entscheidung gegen eine sofortige Verlegung nach Deutschland bekommt Stefan nun auch noch Fieber und in einer erneuten medizinischen Bewertung der Situation wird klar, dass eine angemessene Versorgung in der Klinik nicht mehr gewährleistet ist. Daher entscheidet sich das aqua med Ärzte- und Assistanceteam jetzt doch für den schnellstmöglichen Rücktransport.
Bereits seit Eingang des Erstanrufes auf der Hotline des aqua med Tauchernotrufes wurden im Ärzteteam, parallel zur Begleitung der Behandlung vor Ort, verschiedene Transportmöglichkeiten abgeklärt. Da Stefan für einen Lufttransport noch nicht stabil genug ist und es außerdem für den benötigten Zeitraum keine Landeerlaubnis in Split gibt, entscheidet sich aqua med zunächst für einen Intensivtransport über Land. Der Vorteil besteht neben den intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten an Bord eines Intensivtransportwagens auch in der Möglichkeit, auf dem Weg zur gewünschten Druckkammer in Wiesbaden einen Zwischenstopp in der Druckkammer Graz oder ggf. München einlegen zu können. Doch kurz vor Abschluss der Organisation des Rücktransportes auf dem Landweg atmet Stefan wie durch ein Wunder wieder selbstständig und kann extubiert werden. Die veränderte Situation wird im Ärzteteam von aqua med wieder neu bewertet und es wird entschieden, dass jetzt eine schnelle Repatriierung per Ambulanzflug das Beste für Stefan ist. Auch die Ärzte vor Ort und seine Ehefrau geben dafür ihr ok. Gleich nach der Landung des Fluges in Frankfurt wird Stefan nach Wiesbaden gebracht und erhält dort seine erste Druckkammerbehandlung. Zum Glück schlägt die Behandlung an und es geht ihm nach jeder Druckkammerfahrt besser. Allerdings ist er auch nach 10 Behandlungen noch immer nicht fit genug, um sich ohne Hilfen zu bewegen. Es wird noch ein langer Weg für ihn werden…
Nach nun über einem Jahr und viel Zeit in der Rehabilitation geht es Stefan Gott sei Dank wieder gut. Er kann wieder arbeiten und war nach umfangreichen medizinischen Checks sogar schon tauchen.
Warum hatte Stefan einen so schweren Tauchunfall?
Die zugegebenermaßen provokative Aussage wäre: „Er hat sich auf seinen Tauchcomputer verlassen“ - doch wir schauen uns das im Detail an:
1. Stefan fühlte sich mit seinem Tauchcomputer sicher. Einerseits rät der Hersteller laut Bedienungsanleitung davon ab, das Gerät für Dekompressionstauchgänge zu verwenden, gibt aber andererseits bei Überschreiten von Nullzeiten Informationen wie Dekompressionszeiten an. In einer Stellungnahme aqua med gegenüber führt der Hersteller an, dass das Gerät als reiner Sport-tauchcomputer keine Dekompressionstauchgänge planen kann, jedoch im Falle eines Übertretens der Sporttauchgrenzen bei einem Notaufstieg entsprechende Dekompressionsstufen empfiehlt. Es lohnt also, sich mit allen Details rund um seinen Tauchcomputer zu befassen. D.h. nur die Werbung, dass ein Computer Dekompressionsstufen berechnet bedeutet nicht, dass er für Dekompressions¬tauchgänge entworfen wurde.
2. Nach etwas mehr als einer Stunde Oberflächenpause nach einem dekompressionspflichtigen Tauchgang tauchte Stefan wiederholt auf eine ähnlich große Tiefe ab. Dieser zweite, tauchphysiologisch eher unproblematische Tauchgang war wohl der endgültige Auslöser für die schwere DCS, ursächlich waren jedoch der erste Tauchgang, die kurze Oberflächenpause bis zum Folgetauchgang und die daraus resultierende, weitere Aufsättigung der Gewebe, die vom Tauchcomputer nicht erkannt wurde, weshalb sich Stefan in vermeintlicher Sicherheit wiegte.
3. Wichtig ist: Der Tauchcomputer hatte keinen Defekt und hat für seine Zwecke korrekt gerechnet.
Bei der Nachberechnung der beiden Dekotauchgänge vom Unfalltag mit einer speziell dafür konzipierten Dekompressionssoftware zeigten sich jedoch schwere Dekoverstöße und ausgelassene Dekompressionsstops, die Stefans Tauchcomputer nicht errechnete. Stefans selbst auferlegte Verlängerung der Dekozeiten konnte diese Differenz nicht mehr auffangen.
4. Entsprechende Ausbildung, Ausmaß an Erfahrung, richtige Ausrüstung und deren korrekte Bedienung sind ineinandergreifend und unerlässlich für einen sicheren Tauchgang unabhängig von Ort, Dauer und Tiefe.
Wir haben mit dem betroffenen Sporttauchcomputer und mit einem Tauchcomputer für technisches Tauchen die beiden Tauchgänge inklusive Oberflächenpause in einer Druckkammer nachstellen lassen. Trotz aggressiver Gradientenfaktoren 45/95, was grenzwertig für Wiederholungstauchgänge ist, zeigten sich sehr große Unterschiede in der erforderlichen Dekompressionszeit.
Während der Dekompressionstauchcomputer beim Tauchgang in der Kammer die erste Dekostufe in einer Tiefe von 12 m ansetzte, verlangte der Sporttauchcomputer die erste kurze Deko erst in 6 m Tiefe. Beide Computer waren auf den kleinstmöglichen Konservatismus eingestellt, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen.
Was lernen wir aus dem Fall?
Kenne Deinen Tauchcomputer. Beim Kauf sollte der geplante Anwendungsbereich klar definiert sein. Der Glaube, dass alles gut ist, solange der Computer keine Verstöße anzeigt, reicht nicht immer aus, um unbeschadet aus dem Wasser zu kommen.
Früher musste man Tabellen lernen und verstehen. Heute erlernt man bestenfalls die Benutzung des Tauchcomputers der Tauchschule. Die wenigsten Taucher befassen sich intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen ihres eigenen Computers. Sie vertrauen blind auf die Technik.
Tauche immer innerhalb Deiner und der Deiner Ausbildung entsprechenden, vorgegebenen Grenzen.
Beachte, dass die individuellen Grenzen alters- oder gesundheitsbedingt weit innerhalb der vom Brevet vorgegebenen Grenzen liegen können.
Sei Dir bewusst, dass sogar in Europa eine optimale Versorgung von schweren Tauchunfällen nicht immer sofort verfügbar ist.
Ziel dieses Artikels ist es, dass Bewusstsein dafür zu schaffen, dass ein Tauchcomputer (noch) nicht für uns „denken“ kann und es daher sinnvoll ist, den eigenen Computer und seine Grenzen genau zu kennen.
Fragen zum Bericht? Antworten könnt ihr via marketing@aqua-med.eu erhalten.
Nachtrag von aqua med: Wir erhalten viele Anfragen zur Marke des Tauchcomputers und den Tauchgangsprofilen. Da der Computer, wie bereits erwähnt, für seine Zwecke richtig gerechnet und einwandfrei funktioniert hat, werden wir die Marke nicht nennen und aus diesem Grund auch die Tauchgangsprofile nicht veröffentlichen.
Es geht hier nicht darum, ein einzelnes Modell zu analysieren. Stattdessen möchten wir Taucher dazu aufrufen, sich mit ihrem eigenen Modell zu befassen und dieses auf den richtigen Einsatzbereich zu prüfen.