Kategorie: Reise
Der wilde Westen Europas
Wie fantastisch Irlands Fußballfans sind, weiß spätestens seit der EURO 2016 jeder. Dass Irland genauso fantastische Tauchgebiete hat, ist den meisten jedoch verborgen geblieben. Dabei warten entlang des „Wild Atlantic Way“ nicht nur Seelöwen, Riesenhaie und Wale auf Besucher, sondern auch ein Wracktauchgebiet, von dem mancher behauptet, es sei eines der besten der Welt.
Bericht von Linus Geschke
Es regnet. Das ist nichts Ungewöhnliches. Zumindest nicht für einen Iren und schon gar nichts, wodurch er sich die Laune verderben lässt. Sean Lavelle ist Ire, ein Mann mit graumelierten Haaren und warmen braunen Augen. Von ein paar Regentropfen lässt sich der Inhaber von Dive West Ireland nicht aus der Ruhe bringen, auch nicht von Fragen, die ihm wahrscheinlich schon häufig gestellt worden – zumindest lässt die Geschwindigkeit seiner Antworten darauf schließen. Gibt es hier überhaupt Fische? „Mehr, als du dir vorstellen kannst.“ Aber die Sichtweiten sind nicht so toll, oder? „15 Meter haben wir immer. An guten Tagen können es auch 25 sein.“ Und sonst so? „Riesige Fischschwärme, Seelöwen bei Inishkea, dazu Riesenhaie zwischen März und Juni. Delfine sehen wir fast täglich, Wale häufig und selbst Orcas sind schon an der Küste vorbeigezogen.“
Wenn Lavelle von der Küste spricht, dann meint er den Bereich vor seinem Heimathafen Belmullet mit den umgebenden Inseln Inishkea, Duivlaun und Achill. Es ist ein wilder, fast unverbauter Landstrich, besiedelt mit Menschen, die zu den freundlichsten und aufgeschlossensten Europas gehören. Dabei lag die gesamte Region lange in einer Art Dornröschenschlaf – karge Felder, keine Industrie, wenig Tourismus –, aus dem sie erst in den letzten Jahren erwacht ist. Wachgeküsst durch das Fremdenverkehrsamt und einer Küstenstraße, die zu den längsten ausgewiesenen der Welt zählt. Der „Wild Atlantic Way“ reicht von der Halbinsel Inishowen ganz im Norden bis zu dem kleinen Küstenstädtchen Kinsale tief im Süden, 2600 Kilometer insgesamt. Und überall dort, wo das Meer mit Wucht auf das Land trifft, hat es eine raue und zerklüftete Landschaft geformt, fast schon mystisch, die mit goldfarbenen Stränden und einsamen Buchten durchsetzt ist. Es gibt kaum einen Bereich, der nicht zum Tauchen geeignet wäre, und wenn man als Besucher nicht direkt ans Auswandern denken will, ist man gut beraten, sich auf die wahren Highlights zu beschränken.
Den Anfang macht Malin Head, der nördlichste Punkt des irischen Festlandes oder, wie es der britische Unterwasserfotograf Steve Jones ausdrückt, „eines der besten Wracktauchgebiete der Welt.“ Knapp 200 Wracks wurden dort bislang lokalisiert, und ihre Aufstellung liest sich wie eine Wünsch-dir-was-Liste für Wracktaucher. Luxuriöse Ozeanliner befinden sich darunter, deutsche U-Boote, unzählige Frachter und Kriegsschiffe, deren tonnenschwere Kanonen nur noch auf riesige Heringsschwärme zielen. Die HMS Audacious gehört dazu, ein 182 Meter langes Schlachtschiff der King George-Klasse, welches am 27. Oktober 1914 auf eine deutsche Mine lief und sank, wobei die komplette Besatzung von der Olympic gerettet werden konnte, einem Schwesterschiff der Titanic. Oder die SS Empire Heritage, ein 15.702 Tonnen großer Frachter, der im September 1944 auf seinem Weg von New York nach Liverpool dem deutschen Unterseeboot U-482 vor die Torpedorohre fuhr. Heute liegt der mit Panzern und sonstigen Kriegsmaterialien vollgepackte Gigant in gut 60 Metern Tiefe und wartet auf Besucher, die sich mit Kreislauftauchgerät oder Trimix nähern.
Auch für erfahrene Sporttaucher geeignet ist dagegen die SS Laurentic, und ein Tauchgang an ihr kann einem sogar zu Reichtum verhelfen. Als das Passagierschiff der White Star Line im Januar 1917 sank, hatte es auch 43 Tonnen Gold an Bord, die nach Halifax gebracht werden sollten – eine der größten Goldmengen, die jemals bei einem Schiffsuntergang abhanden kamen. Ein Großteil davon wurde mittlerweile zwar geborgen, 20 Barren aber gelten immer noch als vermisst, was einem aktuellen Gegenwert von mehr als drei Millionen britischen Pfund entspricht. Mehr als genug, um sich die Ausrüstung zu kaufen, die man für einen Tauchgang an der SS Justicia zwingend braucht: Dem zweitgrößten Passagierschiff, das im Ersten Weltkrieg versenkt wurde.
Mit 226 Metern Länge war der 32.234 Bruttoregistertonnen große Luxusliner nur rund 40 Meter kürzer als die Titanic, der sie auch optisch ähnelte – beide wurden auf der Belfaster Harland&Wolff-Werft gebaut. 1912 auf Kiel gelegt, sollte die Justicia eigentlich bis zu 3430 Passagiere von Europa nach Amerika und zurück befördern. Dann kam der Krieg. Als der Ozeanriese 1917 endlich fertiggestellt wurde, wurde er sofort von der britischen Regierung erworben und fortan als Truppentransporter eingesetzt. Eine Marinekarriere, die nur ein gutes Jahr dauern sollte. Von mehreren Torpedos der deutschen U-Boote UB-64 und UB-124 getroffen, sank sie mit dem Heck voran rund 28 Meilen nordwestlich von Malin Head, wo sie seitdem auf ihrer Backbordseite in 64 Metern Tiefe ruht. „Alle reden immer von der Andrea Doria“, meint Unterwasserfotograf Steve Jones, „dabei ist die Justicia das deutlich spektakulärere Wrack. Ganz abgesehen von den fantastischen Sichtweiten, die – anders als an der Andrea Doria – an guten Tagen locker 25 Meter weit reichen.“
Auch für Sporttaucher gibt es rund um Malin Head viel zu sehen, doch die wahren Schätze bleiben den technischen Tauchern vorenthalten. Hier, an der Nordspitze Irlands, wo die Menschen mit den Gezeiten leben und die Landschaften so mystisch sind, dass Lucasfilm nach 2015 für "Star Wars - Episode VII" dort nochmals im Mai 2016 viele Szenen für „Episode VIII“ drehen ließ. Unter Wasser warten die Wracks, über Wasser tummelten sich Luke Skywalker und Chewbacca. Für ein paar Wochen war Malin Head eine weit entfernte Galaxie.
Zwischen Robben und Haien
Bei Sean Lavelle im 300 Kilometer entfernten Belmullet sieht das schon anders aus. Beschaulicher. Hier sind zumeist Sporttaucher zu Hause, auch, wenn das Tauchen bei Dive West Ireland nur wenig mit den durchgeplanten Ausfahrten zu tun hat, die man aus anderen Teilen der Welt kennt. „Im Prinzip ist es ganz einfach“, erklärt Lavelle. „Ich habe drei Boote, und die vermiete ich komplett, zu Preisen zwischen 300 und 500 Euro pro Tag. Auf das kleinste passen zwölf Leute, auf das größte bis zu dreißig. Und dann machen wir, was immer diese Tauchgruppe an dem Tag machen will.“
Zu den Seelöwen wollen sie alle. Es müssen Hunderte sein, vielleicht auch Tausende, die sich auf den Inishkea-Inseln tummeln, und es dauert nur Minuten, bis sie die Taucher unter Wasser umkreisen. In der einen Sekunde ist noch nichts zu sehen, in der nächsten schießen sie wie pelzige Torpedos vorbei. Ab und zu treffen diese Torpedos die Taucher auch mal, was gefühlsmäßig irgendwo zwischen niedlich und schmerzhaft angesiedelt ist, und einer der Fotografen hat große Mühe, einem besonders neugierigen Exemplar klarzumachen, dass seine Kamera weder Nahrung noch Spielzeug ist.
In solchen Momenten kann man sich fast wie in Südafrika fühlen, gerade im Frühling und im Frühsommer, wenn die Riesenhaie kommen. Die bis zu zehn Meter langen Tiere sind nach dem Walhai die größte Haiart, und ebenso wie diese harmlose Filtrierer, die sich hauptsächlich von Plankton ernähren. Meist schwimmen sie mit weit geöffneten Maul direkt unter der Wasseroberfläche, träge und behäbig. Sie sind die Bernhardiner unter den Haien, und wer die Anstrengungen von Malin Head noch in den Waden spürt, ist mit ihnen als gemütlichen Begleiter bestens bedient. Beim Anblick dieser fossil wirkenden Tiere mag man kaum zu glauben, dass sie ebenso wie der Makohai oder der Weiße Hai zur Gattung der Makrelenhaiarten gehören.
Die Region, in der Sean Lavelle zu seinen Tauchausfahrten startet, liegt im County Mayo, welches die Leser der Zeitschrift Irish Times zu der „wildesten des Wild Atlantic Ways“ gewählt haben. Wobei „wild“ hier vor allem abgeschieden bedeutet und das Städtchen Westport mit seinen knapp 6000 Einwohnern schon als Metropole gilt. Es liegt am Rande der fischreichen Clew Bay, und es wäre eine Schande, den County Mayo zu verlassen, ohne dort wenigstens eine Nacht verbracht zu haben.
Dass die Nächte in Westport bisweilen auch kurz ausfallen, liegt vor allem an drei Dingen: Irischer Whisky, irisches Bier und irische Pubs. Insbesondere der von Matt Molloy, einem international erfolgreichen Folk-Musiker. Fast jeden Abend gibt es dort Live-Musik, immer ist es gerammelt voll, die Stimmung ausgezeichnet, und ab und zu soll sogar Bono von U2 vorbeikommen und davon singen, dass die Straßen hier keine Namen haben. Als Deutscher steht man am besten einfach dazwischen, harter Akzent, wenig textsicher, und singt dennoch lauthals mit. Ständig klopft einem dabei eine Hand auf die Schulter, während eine andere Hand das nächste Guinness reicht. Den Überblick, wer hier was bezahlt, hat man nach wenigen Minuten eh verloren, also passt man sich seinen Gastgebern an und holt an der Theke so viele Biergläser, wie man tragen kann, um sie dann den Umstehenden einfach in die Hand zu drücken. Irgendwann kommt die Rede auch auf Fußball, auf „Will Griggs on fire“, und „nanananananana, nanana, nana“ klappt auch mit deutschem Akzent. Dass das Lied eigentlich aus Nordirland kommt, spielt hier keine Rolle – die Grenze zur Republik existiert in der Geografie, nicht in den Köpfen der Menschen, sagt ein großgewachsener Einheimischer, und man denkt, dass Irland manchmal herrlich einfach sein kann. Bis das nächste Bier kommt. Bis man irgendwann sogar glaubt, den irischen Akzent doch verdammt gut drauf zu haben.
Ein U-Boot zum Trost
Am nächsten Tag bereut man. Jedes Guinness, bei jedem Schlagloch. Ist zum ersten Mal sogar für den wolkenverhangenen Himmel dankbar, weil strahlendes Sonnenlicht jetzt das Letzte wäre, was man gebrauchen könnte. Aua, sagt der Kopf. Selbst schuld, sagt der Verstand. Das Einzige, was jetzt noch Trost spenden kann, ist die Aussicht auf ein deutsches U-Boot, welches am Ende der Strecke gen Süden wartet, während vor dem Autofenster ein Land von atemberaubender Schönheit vorbeizieht. Der Blick fällt auf Wiesen und Felder, auf unzählige kleine Dörfer und immer wieder auf Schafe, Schafe, Schafe.
Als U-260 am 20. Februar 1945 vom norwegischen Kristiansand aus in See stach, war der Krieg schon lange verloren. Oberleutnant Klaus Becker durchkreuzte zunächst die Gewässer rund um England, ohne dabei ein einziges feindliches Schiff torpediert zu haben, dann wendete er sich der irischen Südküste zu. Am 12. März 1945 war es gegen 22:30 Uhr mit der Ruhe an Bord dann vorbei, ein mächtiger Schlag ließ das Boot erbeben. U-260 war in 80 Meter Tiefe vor der Grafschaft Cork auf eine Mine gelaufen. Schwer beschädigt tauchte das Unterseeboot vom Typ VII C auf, die Besatzung rettete sich auf Schlauchboote, dann versenkte sie ihr Schiff selbst. Es sank in 44 Meter Tiefe auf den felsigen Meeresboden, wo es sich leicht seitlich geneigt zur Ruhe legte.
Heute wird diese Ruhe oftmals von Tauchern gestört, und sie kommen nicht ohne Grund. Ein Teil der stählernen Decksplatten ist zwar abgefallen und gibt den Blick auf die inneren Bereiche frei, ansonsten aber präsentiert sich U-260 dem Besucher weitestgehend intakt. Gelbschwanzmakrelen umkreisen das hinter dem Turm angebrachte Bordgeschütz, selbst die Propeller sind noch vorhanden. Die Sichtweite ist schlechter als im Norden, gute zehn Meter vielleicht, dennoch schälen sich immer mehr Details aus dem grünlich schimmernden Wasser. Das Periskop. Der Schnorchel, mit dem die Maschine auch bei flacher Unterwasserfahrt mit Luft versorgt werden konnte. Der sogenannte Wintergarten. Im vorderen Bereich des U-Bootes sind die Beschädigungen dann am größten – hier fand der Kontakt mit der Mine statt. Man sieht dort Seeanemonen und einen kapitalen Conger, Dorsche und Pollaks, die häufig auch „Wrackfische“ genannt werden. Adam, ein ortsansässiger Taucher, schwört, dass man in der Gegend ab und an auch Blauhaie vor die Maske bekommt – von dem U-Boot halten sie sich, an diesem Tag zumindest, jedoch fern.
U-260 liegt nur wenige Meilen vor der Küste, in der Nähe des malerischen Hafenstädtchens Glandore. Kurz davor endete auch der Wild Atlantic Way. Eine Straße voller Sehnsüchte und Träume, abgeschieden und abenteuerreich. Eine Route für Entdecker, über wie unter Wasser. Und ein 2600 Kilometer langer Weg, auf dem man vor allem eines gut verlieren kann: Sein Herz.
Informationen Irland:
Anreise:
Irlands Hauptstadt Dublin wird von vielen deutschen Flughäfen per Direktflug angeflogen. Zur Einreise genügt ein Personalausweis, Zahlungsmittel ist der Euro. Für Reisende mit dem Auto gibt es zahlreiche Fährverbindungen.
Beste Reisezeit:
Prinzipiell ist Irland ein Ganzjahresziel. Am wenigsten Niederschlag gibt es zwischen April und September.
Tauchen:
Die Wracks rund um Malin Head sind vor allem für technische Taucher geeignet, alle anderen Gebiete eignen sich auch für Sporttaucher. Die Sichtweiten sind mit bis zu 25 Metern überraschend gut, vor allem im Süden müssen die Tauchbasen die Gezeiten beachten. Als Kälteschutz empfiehlt sich ein Sieben-Millimeter-Anzug oder ein Trockentauchanzug.
Unterkunft:
Entlang des Wild Atlantic Way gibt es Unterkünfte in allen Preisklassen, vom zum Hotel umgebauten Schloss bis hin zum Bed&Breakfast-Zimmer. Bei der Vermittlung sind die Tauchbasen und das Fremdenverkehrsamt gerne behilflich.
Tauchbasis:
Dive West Ireland ist eine kleine und ausgesprochen familiär operierende Basis (Aktualisierung 2020: Die Tauchbasis existiert leider nicht mehr)
Mehr Informationen:
Fremdenverkehrsamt Irland: www.ireland.com/de-de/
Alles über den Wild Atlantic Way: www.wildatlanticway.com/home