Sichelzellenanämie. Tauchen oder nicht?

Teile:
14.06.2012 17:02
Kategorie: Medizin


Den folgenden Text schickte uns die Kollegin Anke Fabian, ihres Zeichens Tauchmedizinerin und Taucher.Net Medizin-Expertin, mit den Worten: "Ein Schmankerl für tauchmedizinisch tätige Kollegen, fürsorgliche Eltern und interessierte Taucher." In dieser weitgefassten Zielgruppe finden sich sicherlich die meisten Leser wieder – hier also ein Beitrag zu einem ansonsten nur wenig beachteten Thema: Sichelzellenanämie und Tauchtauglichkeit.

Bericht von Anke Fabian

Was haben Tabea, Mike, Yasmin, Joshua und Karim gemeinsam? (Namen geändert) Sie sind alle zwischen 11 und 34 Jahre alt und sind alle in Deutschland aufgewachsen. Sie möchten alle einmal kleine und große Taucher werden.
Sie haben jedoch noch eine andere Gemeinsamkeit: Ihr Erbgut stammt nicht aus Europa.

Karim hat iranische Eltern und wurde in Deutschland geboren. Mike und Joshua wurden im Babyalter von deutschen Eltern adoptiert und stammen aus Afrika (Uganda, Kongo). Auch Yasmin ist ein Adoptivkind – sie wurde jedoch in Pakistan geboren. Tabea kam mit ihren Eltern als Kind aus Tansania nach Deutschland und ist Anästhesistin. Alle können klasse schwimmen und fühlen sich im Wasser wohl. Alle sind "prima vista gesund" und körperlich durchschnittlich fit.

Hört sich eigentlich nach dem ganz normalen Durchschnitt an. Und trotzdem: was macht diese Menschen in Bezug auf eine Tauglichkeitsuntersuchung so besonders?



Es ist ihr Erbgut aus "äquatornahen" Ländern. Ländern, in denen Malaria endemisch ist – und in denen auch die sogenannte "Sichelzellen- oder Sichelzellanämie" gehäuft vorkommt.

Was ist Sichelzellanämie?

Die Sichelzellanämie ist eine Erbkrankheit. Durch einen Gendefekt wird ein anormales Hämoglobin (roter Blutfarbstoff) als Bestandteil der roten Blutkörperchen (Erythrozyten) gebildet.

Das führt dazu, dass sich die roten Blutkörperchen verändern und sichelförmig werden. Die Sichelzellanämie gehört zu dem sogenannten hämolytischen Anämien, das heißt, die roten Blutkörperchen erreichen nicht ihre normale Lebensdauer (120 Tage), dadurch entsteht eine Blutarmut mit allen nachfolgenden Symptomen wie Müdigkeit, Infektanfälligkeit und Leistungsabfall.

Das ist jedoch nicht das einzige Symptom dieser Anämieform. Wesentlich schlimmere Folgen hat die Sichelform der Erythrozyten, denn sie kann bei einer schweren Ausprägung zu einer gefährlichen Verstopfung von kleinen Blutgefäßen führen. Diese Komplikation tritt meist während sogenannter Sichelzell-Krisen auf, wenn plötzlich deutlich mehr Erythrozyten ihre Form ändern, so dass sie verklumpen.

Auslöser sind zum Beispiel Sauerstoffmangel, wie dies in der Höhenluft oder bei körperlicher Anstrengung der Fall sein kann sowie bei Kälte, Infekten und Entzündungen. Durch wiederholte Sichelzellkrisen oder unbemerkte kleine Gefäßverschlüsse kommt es schließlich zu schweren Langzeitschäden in verschiedenen Organen (Gehirn, Lunge, Augen, Niere, Milz etc...). Zudem tut eine Sichelzellkrise richtig weh. Die Betroffenen leiden unter starken Schmerzen, meist im Bauch- oder Brustkorbbereich und/oder an den Gelenken.

Die Erbkrankheit wird autosomal vererbt, das heißt unabhängig von den Geschlechtschromosomen. Chromosomen liegen immer paarweise vor. Bekommt ein Mensch nur ein krankes Chromosom von einem der Elternteile vererbt und hat dazu ein normales Chromosom, bildet er gleichzeitig normales (HbA) und abnormales (HbS) Hämoglobin im Verhältnis 1:1. Solche sogenannten "heterogenen Träger" werden nur dann krank, wenn der Ausbruch der Erkrankung durch bestimmte Faktoren "getriggert" wird (Sauerstoffmangel, Kälte, Anstrengung, Infektionen etc...). Ist ein Mensch ein sogenannter homozygoter Träger mit zwei anormalen Chromosomen, wird ausschließlich HbS gebildet. Schon die normalen physiologischen Bedingungen reichen aus, um eine Verformung der roten Blutkörperchen auszulösen. Die Sichelzellen verhaken sich leicht und führen zu den genannten Symptomen.

 

Wer ist betroffen?

Und warum nun gerade Tabea, Mike, Yasmin, Joshua und Karim auf Sichelzellanämie checken lassen und andere Kinder oder Erwachsene nicht? Die Sichelzellanämie hat die größte Verbreitung in den Malariagebieten Afrikas und Asiens. Und genau von dort stammt das Erbgut unserer fünf Tauchaspiranten.

In Äquatorialafrika sind 25–40 Prozent der Bevölkerung heterozygote Merkmalsträger. Die Häufigkeit des Defekts nimmt mit dem Abstand zum Äquator deutlich ab. Bei der schwarzen Bevölkerung Amerikas liegt die Häufigkeit nur noch zwischen 5 und 10 Prozent. Dieses Phänomen lässt sich dadurch erklären, dass heterozygote Merkmalsträger eine relative Resistenz gegen Malaria besitzen – ein Umstand, der in Malariagebieten einen deutlichen Selektionsvorteil darstellt. In gemäßigten Breiten ist der Selektionsvorteil aufgrund der fehlenden Malaria nicht wirksam. Wenigstens ein wenig Gutes hat diese Erkrankung am Ende also doch.

Diagnostik

Erste Hinweise ergibt die Familiengeschichte. Die Diagnose wird laborchemisch anhand eines Differentialblutbildes (Vorhandensein sogenannter Targetzellen) gestellt und sollte im Weiteren durch spezielle Sichelzelltests ergänzt werden (Hämoglobin-Elektrophorse Restriktionsanalyse).

Und was hat das alles mit dem Tauchsport zu tun?

Selbst im wärmsten Gewässer und im erholsamsten Tauchurlaub können Kälte, Anstrengung, Infekte, körperlicher Stress und Dehydration die ständigen Begleiter eines Tauchers sein. Damit hat man schon einmal die gängigen Verdächtigen unter den auslösenden Faktoren, eine Sichelzellkrise auszulösen, mit an Bord. Zudem wissen wir nicht, wie die Sichelzellform der roten Blutkörperchen als Haupttransporteure für Sauerstoff die Sättigungskinetik für Stickstoff beeinflusst. Homozygote Träger (2 anormale Chromosomen) sind streng vom Tauchsport ausgeschlossen.

Bei heterozygoten Trägern, die im Alltag sonst gesund sind, ist der Sichelzelltest im Labor ausschlaggebend. Nehmen die Erythrozyten unter Sauerstoffabschluss eine Sichelzellform an, sollte nicht getaucht werden. Ist dies nicht der Fall, muss die Tauchtauglichkeit trotzdem eingeschränkt werden und der Proband eingehend über die Risiken aufgeklärt sein. Tauchen in kalten Gewässern, Eistauchen und alle anstrengenden Tauchgänge (z.B. Bergungen) sind zu vermeiden. Berufstaucher und Kinder bis 18 Jahre erhalten keine Tauchtauglichkeit. Die Tauchtauglichkeitsuntersuchung wird jährlich durchgeführt – egal in welchem Alter – und im Spektrum je nach Krankheitsausprägung erweitert (Ultraschall Bauch und Herz, Augen, Niere etc...)

In Deutschland sind jährlich etwa 300 Kinder (siehe auch DiveInside Bericht Kindertauchen) und Erwachsene von der Sichelzellerkrankung betroffen. Meist handelt es sich um Einwanderer aus Malaria- Endemiegebieten – oder um adoptierte Kinder.

Insgesamt ist die Sichelzellanämie eine nicht sehr häufig vorkommende Fragestellung in einer tauchmedizinischen Sprechstunde. Der Taucherarzt muss aber im Einzelfall daran denken – und es schadet auch nichts, wenn in der Tauchschule bei den Tauchschülern danach gefragt wird!