Seekrankheit - Schwindelerregend!. Entstehung, Symptome, Therapie, Vorbeugung

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12.03.2012 16:37
Kategorie: Medizin


Die meisten haben es – wenn nicht am eigenen Leib erlebt – so doch immerhin schon bei anderen beobachten können: Die See wird rauer, Übelkeit setzt ein, und das Frühstück geht über die Reling. Das ist in jedem Falle sehr unangenehm, es kann aber auch – bei längerer Krankheitsdauer – durch Austrocknung des Körpers gefährlich werden.

Die Seekrankheit ist also eine ernstzunehmende Erkrankung, die nicht nur Gesundheit des Betroffenen gefährdet, sondern auch die zuverlässige Ausübung der Aufgaben auf See, etwa durch Besatzung oder Tauchlehrer, beeinträchtigen kann.


Bericht von Dr. Anke Fabian und Dr. Ralf Busch

Definition


Reise- oder Bewegungskrankheit (fachsprachlich Kinetose von griechisch kinein = bewegen) beschreibt das sich bietende Bild aus Schläfrigkeit, Frösteln, Unwohlsein, Kreislaufstörungen und einer Übelkeit, die bis zu unstillbarem Erbrechen führen kann. Verantwortlich dafür sind die widersprüchlichen Informationen, denen unsere Sinnesorgane – Gleichgewichtsorgan, Augen, Rezeptoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken – bei Seegang ausgesetzt sind.

Die individuelle Empfindlichkeit ist sehr unterschiedlich, auch die Tagesform spielt eine Rolle. Man geht heute davon aus, dass mehr als die Hälfte der Menschen potenziell unter Reise- oder Seekrankheit leidet.

Entstehung


Normalerweise werden Informationen über Umwelteinflüsse im Stamm- und Kleinhirn verarbeitet, deshalb können wir auch nicht bewusst dagegen ankämpfen. Dabei sollen uns – bei richtiger Funktion – Informationen darüber geliefert werden, wie wir uns bei Bewegungen im dreidimensionalen Raum verhalten sollen. Das Stammhirn erhält seine Information vom Innenohr, Lage- und Stellrezeptoren in der Muskulatur, den Augen, dem Magen und einigen anderen Sinneseindrücken mehr. Die genaue Lage des hypothetischen "Fehlerzentrums" im Gehirn, welches die Sinneseindrücke vergleicht und die Seekrankheit verursacht, ist noch unklar. Erfreulicherweise ist unser Gehirn jedoch anpassungsfähig und eine Seekrankheit hört – in der Regel – nach einigen Tagen wieder auf. Nur in fünf bis sieben Prozent der Fälle bleiben die Symptome über längere Zeit bestehen.

Das Innenohr

Das Innenohr ist eine, durch zwei Membranen (rundes und ovales Fenster) vom Mittelohr abgegrenzte, flüssigkeitsgefüllte Struktur und enthält sowohl die Hörschnecke wie auch das Gleichgewichtsorgan mit den drei Bogengängen. Beide sind überaus empfindlich und müssen unbedingt geschont werden. Die Flüssigkeit (Endolymphe) dient der Ernährung und Funktionserhaltung der Innenohrorgane.

Das Gleichgewichtsorgan besteht aus drei Bogengängen und zwei Verdickungen, die für die räumliche Orientierung notwendig sind. Der horizontale Bogengang liegt dem äußeren Gehörgang und dem Mittelohr so eng an, dass eine Stimulierung dieses Bogengangs durch kaltes oder heißes Wasser möglich ist. Das spielt beim Tauchen in sehr kalten Gewässern (z.B. beim Eistauchen) eine Rolle oder nach einem Trommelfellriss. Unphysiologische Reizung löst Schwindel aus. Das Gleichgewichtsorgan stellt eine wichtige Sinneswahrnehmung dar, da man unter Wasser darauf angewiesen sein kann (vor allem bei schlechter Sicht), zu spüren wo oben und wo unten ist.

Das Innenohr kann beim Tauchen sowohl durch den Druck, durch Temperaturunterschiede als auch durch die Stickstoffbelastung in Mitleidenschaft gezogen werden. Außerdem ist es verantwortlich für die Entstehung der Seekrankheit.

Der Gleichgewichtssinn hat sein Zentrum im Gleichgewichtsorgan in Innenohr und Kleinhirn; er ist aber auch eng mit den Augen, dem Gehör, dem Haut- und Tastsinn, der Skelettmuskulatur sowie mit Reflexen verbunden.

Weitere Informationen zum Thema (Taucher)Ohr findet ihr hier.

Selbst im heimischen Fernsehsessel lassen sich Symptome einer Seekrankheit auslösen. Schauen wir uns eine aus der Fahrerperspektive gefilmte schnelle Achterbahnfahrt auf einem großen Bildschirm an, kann uns bereits flau im Magen werden. Das liegt daran, dass die Informationen, die uns die Augen bieten, im Widerspruch zu allen anderen Informationen stehen. Unser Gleichgewichtssinn liefern uns im Sessel keine Informationen über Beschleunigungs- und Bremsvorgänge, auch zeigen uns die Rezeptoren in unserer Muskulatur in unserem kleinen Gedankenexperiment eben nicht an, das wir in den Sitz gedrückt oder herausgehoben werden.

Grundsätzlich passiert nichts anderes, wenn der Bug des Bootes durch die Wellen reitet und wir dies zwar mit allen Sinnen wahrnehmen können, aber nicht mit allen gleich richtig, weil wir darauf schlicht nicht "geeicht" sind.

Symptome

Die Seekrankheit kann in unterschiedlicher Stärke und Ausprägung verschiedene Stadien durchlaufen. Das "flaue" Gefühl im Magen ist oft das erste, was wir bemerken. Befragt man seekranke Menschen hinterher genauer, werden oft Müdigkeit, Kältegefühl, häufiges Gähnen, Kopfschmerzen als Vorläufer beschrieben.

Wir können uns das alles gut erklären, wenn wir wissen, dass unser "vegetatives" Nervensystem dabei auf den "Pause"-Modus umschaltet. Der sogenannte Parasymphaticus (ein Teil des unbeeinflussbaren vegetativen Nervensystems) gewinnt über die Maßen an Einfluss. Das ist der Teil, der im Schlaf oder auch bei der Verdauung eines üppigen Festmahls die Oberhand hat. Wird es schlimmer, führt die Übelkeit zum Erbrechen, und der Betroffene fühlt sich sterbenselend.

Leider hört die Übelkeit nicht immer auf, wenn der Magen leer ist. Irgendwann kommt dann nur noch Magensekret oder sogar grün gefärbtes galliges Sekret, weil die Verschlusssysteme des Magens nicht mehr ordentlich arbeiten. In starker Ausprägung der Seekrankheit erfahren die Betroffenen einen immens hohen Leidensdruck, werden gleichgültig bis apathisch, depressiv, zum Teil auch völlig entschluss- oder handlungsunfähig.

Und spätestens ab hier wird es auch gefährlich. Der Körper verliert Flüssigkeit, und es gibt auf normalem Weg keine Möglichkeit, dies auszugleichen. Denn alles, was wir in der akuten Phase von "oben" nachschütten – sogar Löffelweise – kommt sofort wieder nach oben. Es droht eine Austrocknung (Dehydratation), die ohne effektive Therapie (Infusionen, Flüssigkeitsgabe über eine Vene) sogar lebensbedrohlich werden kann.

Therapie

Ist die Seekrankheit bereits symptomatisch, helfen leider oft nur noch Medikamente. Der Vorteil beim Einsatz von Chemie besteht in der durchschlagenden Wirksamkeit der Medikamente. Der Nachteil ist jedoch, dass die meisten hochwirksamen Präparate genau dort ansetzen, wo die Seekrankheit entsteht, nämlich im zentralen Nervensystem, und dort begleitend eine zentrale Dämpfung auslösen (z.B. Müdigkeit, Schläfrigkeit, Benommenheit).

Das ist therapeutisch gesehen durchaus erwünscht, aber leider mit dem Tauchsport nicht vereinbar. Weitere unerwünschte Effekte – je nach individueller Empfindlichkeit – sind: Mundtrockenheit, Sehstörungen, Schwierigkeiten beim Wasserlassen, verstopfte Nase, und sogar Verschlimmerung bestimmter Herzrhythmusstörungen (Long QT-Syndrom). Wenn man vermutet, dass man seekrank werden könnte, sollte man also seine individuelle Medikation vor einer geplanten Bootsausfahrt oder Safari mit dem Tauchmediziner oder Hausarzt besprechen.

Das bekannteste Medikament gegen Übelkeit ist Metoclopramid (MCP, Handelsname z.B. Paspertin). Es ist im Allgemeinen gut verträglich, es beschleunigt und erleichtert den Weitertransport von Flüssigkeit und Nahrung im Darm. Leider ist es bei Seekrankheit meist nicht ausreichend wirksam. Als Darreichungsform kommt nur das Zäpfchen (Kühlung!) in Frage.

Aktuelle Ergänzung:

MCP-Tropfen sind seit dem 17.4.2014 ohne Zulassung in Deutschland; die Tropfen sind daher nicht mehr 'verkehrsfähig'. Arzneimittel, deren Konzentration unter einem bestimmten Grenzwert liegt, können weiterverordnet werden. Allerdings gibt es auf dem deutschen Markt keine entsprechend dosierten Tropfen. Bis die Hersteller Nachfolgepräparate mit geringerer Wirkstoffmenge anbieten, kann es noch Monate dauern. MCP-Tabletten, -Zäpfchen und Injektionslösungen sind weiterhin verfügbar und 'verkehrsfähig'.


Besser wirkt schon Scopolamin (Handelsname z.B. Scopoderm als Pflaster) oder Butylscopolamin (Handelsname z.B. Buscopan, ideal als Zäpfchen) Diese Medikamente bremsen die überschüssige Aktivität des vegetativen Nervensystems.

Das gilt auch für das wirkungsvollste Medikament Dimenhydrinat (Handelsname Vomex oder Dramamine im Ausland, ideal als Zäpfchen). Das Wirkungsprinzip ist hier etwas anders, aber die Übelkeit, und damit das Erbrechen, können oft rasch durchbrochen werden. Nach der Gabe ist eine Mindestwartezeit von 24 Stunden bis zum nächsten Tauchen und eine ausreichende Flüssigkeitsrückführung zu beachten.

Bei der Wiederauffüllung der Flüssigkeitsspeicher sind Elektrolytgetränke (siehe Abbildung) hilfreich, die Variante Cola/Salzstangen ist besser als nichts – wenn sie denn drinbleibt.

Vorbeugung

Nun, idealerweise belassen wir es beim Festland, wo unser Gleichgewichtssystem hervorragend funktioniert. Das ist aber für uns als Taucher keine Alternative. Erfahrungsgemäß erwischt es im Auto nie den Fahrer. Auf ein Schiff umgemünzt heißt das, möglichst viele Signale des Körpers in Einklang zu bringen und das empfindlichste Organ, nämlich das Innenohr, sozusagen lahmzulegen.

Die unteren Kabinen sind keine gute Idee. Am besten ist es, sich eine Position zu suchen, in der das Schiff am wenigsten Schaukel- oder Rollbewegung hat – also in der Mitte – und zwar sowohl bezüglich der Längs- als auch der Querachse des Schiffsrumpfes. Vorne am Bug oder hinten am Heck, weit links oder rechts an der Reling, entstehen die größten Bewegungsausmaße. Mit Blick auf den Horizont oder einen anderen unbewegten Punkt (Sterne, Mond, Wolken) ist die Wahrscheinlichkeit am geringsten, dass es uns trifft. Also freien Blick nach vorne, wenn es im Magen flau wird. Alkohol, Sonne und Überhitzung sollten auch vermieden werden.

Chinesische Seeleute und Fischer trinken seit Urzeiten Ingwertee und trotzen damit oft der Seekrankheit. In Foren wird das Kauen von kandiertem oder frischem Ingwer empfohlen. Das ist nicht jedermanns Sache...

Mittlerweile gibt es Auszüge der Ingwerwurzel in verschiedenen Darreichungsformen in der Apotheke (Bonbons, als Tablette oder seit kurzem auch Ingwertropfen. Da die wirksamen Substanzen des Ingwers wohl in seinen öligen Anteilen liegen, sind flüssige Auszüge am ehesten wirksam.

Erste Untersuchungen belegen, dass Ingwer Scheinmedikamenten (Placebo) deutlich überlegen ist. Und Ingwer(präparate) sind nahezu frei von Nebenwirkungen.

Auch aus der traditionellen chinesischen Medizin stammt die Methode der Akupressur. Auf der Innenseite des Handgelenks liegen einige "vegetative" Punkte, die die Empfindlichkeit für eine Seekrankheit vermindern können. Unter dem Handelsnamen Sea-Band werden Armbänder mit Kupfernieten vertrieben, die die entsprechenden Punkte stimulieren. Nebenwirkungen gibt es keine. Ist ein Sea-Band nicht vorhanden, kann man auch den entsprechenden Punkt an der Innenseite des Handgelenks manuell leicht drücken oder massieren.



Ein Geheimtipp ist Cinnarizin. Es hat als sogenannte "Seglertropfen" Geschichte geschrieben und hat keine müde machenden Nebenwirkungen. Der Wirkstoff heißt Cinnarizin und kann das Auftreten einer Seekrankheit mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindern (neben dem Original Stugeron® stehen zahlreiche Generika zur Verfügung). Leider ist er in Deutschland nicht so einfach zu beschaffen. Es ist ein sogenannter Calcium-Gegenspieler, der auf alternativen Weg das vegetative Nervensystem beeinflusst. Es ist verschreibungsfähig, muss aber aus dem Ausland bezogen werden, da es in Deutschland keine Zulassung mehr hat. Wer extrem stark unter Seekrankheit leidet, dem sei ein Versuch trotzdem empfohlen. Entweder vom Hausarzt (auf Privatrezept) aufschreiben lassen (die Apotheke besorgt das Präparat), oder selber im Zielland kaufen. In Ägypten z.B. ist das Medikament in jeder Apotheke verfügbar. Wichtig ist hier die Dosierung. In einer Studie wurde festgestellt, dass 50 mg in 65 Prozent der Fälle wirksam sind, während das 25 mg-Präparat nicht besser abschnitt als ein Placebo. Also 50 mg rezeptieren lassen!

Mehr Info dazu gibt es online beim Europäischen Seglerinformationssystem (ESYS).

Fazit

Alle prophylaktischen Maßnahmen müssen in jedem Falle VOR Eintreten der ersten Symptome durchgeführt werden. Ist die Seekrankheit erst einmal manifest, nützen in der Regel nur noch starke Medikamente.

Die beste Therapie ist jedoch die Gewöhnung an die Bewegungen des Schiffes, bei der unser "Hirncomputer" umprogrammiert wird.

Hilft alles nichts, bleibt nur noch eine alte englische Seemannsweisheit: "The only cure for seasickness is to sit on the shady side of an old brick church in the country" – Das einzige sichere Mittel gegen Seekrankheit ist, sich in den Schatten einer alten steinernen Dorfkirche zu setzen...