Sauerstoff. Medikament und Gift zugleich

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30.10.2011 09:45
Kategorie: Medizin


Sauerstoff bedeutet Leben. Andererseits lernt jeder Taucher, dass dieses Lebenselixier auch unangenehme Folgen bis hin zum Tod haben kann.

Aber was passiert eigentlich genau bei so einer Sauerstoffvergiftung im Körper? Wie erkennt man sie? Und noch wichtiger: Wie lässt sie sich vermeiden?


Bericht von Dr. Anke Fabian

Sauerstoff (engl. oxygen, Symbol: O2), ist ein farb-, geruch- und geschmackloses Gas und das am häufigsten auftretende Element auf der Erde. Ohne Sauerstoff gäbe es kein menschliches Leben. Die meisten Organismen, einschließlich des Menschen, der Tiere, der Pflanzen und vieler Bakterien, brauchen Sauerstoff zum Leben. Er wird zur Energiegewinnung durch Oxidation benötigt. Der Sauerstoff wird dabei in der sogenannten Atmungskette wieder zu Wasser reduziert. Außerdem werden etliche Stoffwechselprodukte mithilfe von bestimmten Enzymen (Oxygenasen) oxygeniert und damit abgebaut.

Physikalische und Chemische Eigenschaften:

Sauerstoff hat eine Dichte von p = 1,429 g/l unter Normalbedingungen. Der Siedepunkt liegt bei minus 182,96° Celsius (Normaldruck) und die Wärmeleitfähigkeit bei 26,4 mW/m-K. Sauerstoff ist unter Normbedingungen ein gasförmiges chemisches Element mit dem Symbol O, der Atomzahl 8 und dem Atomgewicht (Molmasse) 15.9994.

Elementarer, gasförmiger Sauerstoff ist relativ reaktionsträge, viele Reaktionen finden bei Normalbedingungen gar nicht oder nur langsam statt. Der Sauerstoffanteil der atmosphärischen Luft beträgt rund 21 Prozent. Entsprechend beträgt der Sauerstoffpartialdruck 0,21 bar.

Medikament Sauerstoff

Sauerstoff zur Anwendung in der Humanmedizin unterliegt aufgrund gesetzlicher Regelungen strengen Kontrollen. Diese Art von 100-prozentigem, medizinisch reinem Sauerstoff wird (in Deutschland) entweder in weißen, gekennzeichneten Flaschen gasförmig abgefüllt oder als Flüssigsauerstoff in Tanks geliefert. Er gilt in Deutschland als Fertigarzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes (AMG).

Manchmal reicht der natürliche Sauerstoffgehalt der Atmosphäre nicht aus, um der gegebenen körperlichen Situation Rechnung zu tragen (z.B. nach Operationen, bei Pneumothorax oder bei Neugeborenen) oder es ist ein höherer Partialdruck im Blut notwendig, um bestimmte Heilungsprozesse zu initiieren (z.B. bei diabetischen Problemwunden, Knocheninfarkten). Die zusätzliche Applikation von Sauerstoff erfolgt meistens über eine Maske oder durch einen Lungentubus bei einem intubierten Patienten.

Sauerstoff kann normobar (wie auf jeder Intensivstation üblich) oder hyperbar in einer Druckkammer verabreicht werden. Letzteres nennt man dann "Hyperbare Sauerstofftherapie" (HBO). Dabei atmet der Patient 100 Prozent medizinisch reinen Sauerstoff entweder über eine Maske oder direkt, wenn die Kammer mit Sauerstoff befüllt ist (wegen der hohen Brandgefahr in Deutschland nicht zulässig). Je nach Umgebungsdruck steigt der Sauerstoffpartialdruck im Blut und in den Geweben an. Damit wird einerseits eine akute Oxygenation von mangelversorgten Gewebeabschnitten erzielt, andererseits werden unter anderem dadurch auch Heilungsprozesse beispielsweise durch Ödemabfluss, Abschwellung, Angioneogenese (Neubildung von Blutgefäßen) oder Absterben von Anaerobiern (strikt unter Sauerstoffabwesenheit wachsende Keime) erreicht.


 

Sauerstofftoxizität

Sauerstoff wird normalerweise nur in engen Grenzen toleriert. Unterhalb eines Partialdrucks von 0,16 bar wird man meistens ohnmächtig. In Abhängigkeit von der Höhe des Partialdrucks und Dauer der Expositionszeit lassen sich zwei Arten von Einwirkungen beobachten, die neurologische (das Nervensystem betreffende) und die pulmonale (die Lunge betreffende) Sauerstofftoxizität. Bei Drücken über 1,6 bar droht eine "Oxidose" (akute Sauerstoffvergiftung, Sauerstoffkrampf). Doch auch schon bei längerem Einatmen selbst bei niedrigerem Partialdruck wirkt Sauerstoff schädlich. Dabei ist das vorwiegende Zielorgan jedoch meistens die Lunge (chronische Sauerstoffvergiftung) mit passageren oder sogar permanenten Lungenschäden.


 

Chronische Sauerstoffvergiftung

Bei längeren Expositionszeiten von Sauerstoff oder sauerstoffreichen Gemischen (über 24 Stunden) kann es – auch bereits bei niedrigen Partialdrücken (< 1 bar) – zu Schädigungen kommen. Zielorgan ist – wie schon erwähnt – hier meist die Lunge. Mit steigendem Druck reduziert sich die Einwirkungszeit die "notwendig" ist, um gleiche Lungenschädigungen hervorzurufen. Aus früheren Zeiten kennt man auch die Beeinträchtigung der Netzhaut bei längerer Sauerstoffgabe bei Frühgeborenen im Brutkasten, die zur Erblindung führte (retrolentale Fibrose). Die Schädigung der Lunge wird auch als "Lorrain-Smith-Effekt" bezeichnet.

Benannt wurde der Effekt nach dem britischen Arzt James Lorrain Smith (1862-1931). Der Mechanismus der dahintersteckt besteht aus einer Ödembildung (Flüssigkeitsanreicherung) in den kleinen Lungenbläschen (Alveolarödem) und einer Schädigung des "Surfactant Factor" (der die Oberflächenspannung der Alveolen reduziert), was einen Alveolenkollaps zur Folge hat. Dies vermindert die zur Verfügung stehende Lungenoberfläche für den Gasaustausch.

Die Symptome der pulmonaren Sauerstofftoxizität beginnen mit Reizungen des Rachens und gelegentlichem Husten, die sich bei weiterer Einwirkungszeit zu einem unkontrollierbaren Husten steigern und Engegefühl in der Brust, Schwindel, Leistungsschwäche und Schmerzen beim Atmen steigern können. Das Lungengewebe wird zunehmend geschädigt. Die Strukturveränderungen sind zu Anfang noch reversibel, können aber nach langen Expositionszeiten auch permanent und unheilbar werden und – letztendlich wegen ungenügender Sauerstoffversorgung des Körpers – sogar zum Tode führen.

Als tolerierbare Obergrenze des Sauerstoffpartialdrucks, der auch über längere Zeiträume ohne schädigende Wirkungen geatmet werden kann, wird heute 0,5 bar angesehen. Daher darf bei Sättigungstauchgängen der Sauerstoffpartialdruck von 0,5 bar nicht überschritten werden. Bei Tauchgängen mit Druckluft, die auf 50 Meter Wassertiefe begrenzt sind, beträgt der Partialdruck maximal 6 bar x 0,21 = 1,26 bar.

Dieser Sauerstoffpartialdruck würde eine Einwirkungszeit von etwa 8 Stunden erfordern, um eine Schädigung der Lunge in einer Größenordnung von 2 Prozent zu erreichen. Da aber aus Dekompressionsforderungen die Tauchzeit für 50 Meter Tiefe auf etwa eine Stunde begrenzt ist, kann bei Drucklufttauchgängen eine chronische Sauerstoffvergiftung ausgeschlossen werden.

Anders ist es bei Behandlungen von schweren Tauchunfällen in Druckkammern, wo durch bewusst hohe Sauerstoffpartialdrücke neurologische Vergiftungserscheinungen auftreten könnten, insbesondere dann, wenn der Taucher körperlich erschöpft ist oder – aufgrund der Schwere der DCS II – mehrere Rekompressionstherapien notwendig werden.

Akute Sauerstoffvergiftung

Bei Partialdrücken von 1,6 bar und mehr können Vergiftungserscheinungen des zentralen Nervensystems auftreten. Dieser sogenannte "Paul-Bert Effekt" oder auch neurotoxische Effekt ist eine Vergiftung des zentralen Nervensystems beim Atmen von hohen Sauerstoffkonzentrationen z. B. bei Verwendung von sauerstoffangereicherter Luft (Nitrox) beim Tauchen oder bei der HBO. (Paul Bert, französischer Physiologe, 1833-1886).

Je höher die Gesamtdosis – errechnet aus dem Produkt von Partialdruck und Zeit – ist, je höher ist die Wahrscheinlichkeit einer ZNS-Vergiftung. Da beim Tauchen mit sauerstoffangereicherten Gemischen die kritische Grenze leicht überschritten werden kann, ist eine akute Sauerstoffvergiftung beim Tauchen mit Nitrox oder beim technischen Tauchen möglich. Sauerstoffkrämpfe wurden auch beim Freizeittauchen mit Druckluft in großen Tiefen (theoretisch ab ca. 60 Meter) beschrieben – Tiefen, in denen sich ein Taucher mit Druckluft normalerweise jedoch nicht aufhalten sollte.

Symptome einer akuten Oxidose sind: Unruhe, Metallgeschmack auf der Zunge, unkontrolliertes Zucken der Gesichtsmuskeln, Tunnelblick, Benommenheit, Übelkeit und schließlich generalisierte Krämpfe. Bei hohen Sauerstoffpartialdrücken treten diese Symptome bereits innerhalb weniger Minuten auf. Die Vorboten (Prodromi) eines drohenden Sauerstoffkrampfes sind in der Regel zu kurz, um unter Wasser noch adäquat darauf reagieren zu können. Bis auf wenige Ausnahmen (Taucher mit Vollgesichtsmaske) folgt einem Sauerstoffkrampf unter Wasser der Ertrinkungstod. Selbst wenn schnelle Hilfe durch den Tauchpartner geleistet wird, kann ein Krampf unter Wasser weder kontrolliert werden, noch gewinnt man das Wettrennen zur Oberfläche vor dem Ertrinken. Während eines Krampfanfalls ist die Stimmritze fest verschlossen, sodass keine Luft aus der Lunge entweichen kann. Bei schnellem Auftauchen kommt es folglich zu einer Überblähung der Lunge oder sogar zu einem Lungenriss. Dies – nebst dem dann zu erwartendem Dekompressionsunfall – wäre einem Ertrinkungstod zugegebenermaßen vorzuziehen, jedoch erreicht man die Oberfläche ohnehin nicht rechtzeitig.

Beobachtungen bei Patienten aus der Hyperbarmedizin zeigen, dass die betroffene Person oft noch reflektorisch die Maske abstreift, bevor der Krampf beginnt. Dann ist der Patient jedoch schon nicht mehr bei klarem Bewusstsein. Auch wenn die Sauerstoffzufuhr in diesem Moment auf ein normales Maß gedrosselt wird, läuft der Krampf in voller Länge unbeeinflusst ab. Unter Wasser nehmen Taucher kurz vor einem Krampf häufig noch das Mundstück des Atemreglers aus dem Mund oder streifen die Maske ab. Versuche, das Mundstück wieder einzusetzen, misslingen immer, da die Zähne fest aufeinander gebissen werden und sich der Kiefer nicht mehr öffnen lässt.

Die Sauerstoffverträglichkeit und die Sauerstoffsensibilität sind individuell verschieden – was der Eine noch problemlos wegsteckt, ist für manch Anderen schon zu viel. Die Sauerstofftoleranz variiert jedoch nicht nur zwischen den einzelnen Menschen, sondern individuell auch von Tag zu Tag und ist abhängig von der körperlichen Verfassung und jeweiligen Tagesform. So ist die Verträglichkeit in Ruhe deutlich größer als beispielsweise bei schwerer Arbeit unter Wasser, was sich in den unterschiedlichen Toleranzgrenzen in einer Druckkammer im Gegensatz zum Nasstauchgang im Wasser ausdrückt. Schlafmangel, Dehydration, Alkoholeinfluss und Aufregung steigern die Sensibilität.

Sauerstofftoleranztest

In den Jahren 1942/43 führte die britische Regierung umfangreiche Tests über die Sauerstoffsättigung beim Taucher in einer Druckkammer bei 3,7 bar Gesamtdruck (entsprechend 27 Meter Wassertiefe) durch. Die Taucher atmeten 100-prozentigen Sauerstoff aus einer Maske. Dokumentiert wurden die ersten Anzeichen eines Sauerstoffkrampfes.

Zur Erkennung einer besonderen Sauerstoffempfindlichkeit und der individuellen Toleranzgrenze eines Tauchkandidaten werden auch heute noch Sauerstofftoleranztests durchgeführt. Dabei atmet der Kandidat in einer Druckkammer unter einem Partialdruck von 2,8 bar für eine halbe Stunde reinen Sauerstoff. Nach Eintreten der ersten Symptome wird die Exposition abgebrochen. Der Aussagewert dieser Tests für das Tauchverhalten ist allerdings mehr als fragwürdig und sollte keinesfalls als ein "Sauerstoff – TÜV" für eine bestimmte Tiefe angesehen werden. Was an einem Tag problemlos toleriert wird, kann am nächsten Tag – bei anderer körperlicher Verfassung, Wassertemperatur, Anstrengung, etc. – schon wieder völlig anders sein.

UPTD: Rechnerische Abschätzung des Risikos einer Lungenschädigung

Kalkulation der Sauerstoffdosis und des Sauerstoffpartialdrucks anhand UPTD / MOD zur Vorbeugung von chronischen und akuten Sauerstoffvergiftungen: UPTD: Unit Pulmonary Toxicity Dosage.

Für Dekompressions- und Therapieprozeduren wird reiner Sauerstoff eingesetzt. Da die Einwirkungszeiten und die Partialdrücke ständigen Änderungen unterworfen sind, ist es schwierig, den Gesamteffekt der Sauerstoffeinwirkung zu bestimmen. Zur kalkulatorischen Abschätzung des Risikos einer Lungenschädigung unter 100 Prozent Sauerstoff wurde die UPTD eingeführt: Unit Pulmonary Toxicity Dosage [1 UPTD = 1 bar 100% O2 für 1 min.]

Man rechnet mit 2 Prozent Vitalkapazitätsreduktion bei 615 UPTD und mit 10 Prozent Vitalkapazitätsreduktion bei 1.425 UPTD.

Anmerkung: die Vitalkapazität ist eine in der Lungenfunktion gemessene Kenngröße. Sie bezeichnet das Lungenvolumen zwischen maximaler Einatmung (Inspiration) und maximaler Ausatmung (Exspiration).

Unter hyperbaren Bedingungen (zum Beispiel 15 Meter Wassertiefe, entsprechend 2,5 bar) errechnen sich bei der gebräuchlichen Expositionszeit von 60 bis 90 Minuten dementsprechend UPTD-Werte von 2,5 x 60 oder 2,5 x 90 = 150 bzw. 225. Entsprechend den verschiedenen Sauerstoffbehandlungsstufen auf verschiedenen Partialdrücken werden die einzelnen UPTD-Giftigkeitsdosen bestimmt und addiert. Dies ist ein theoretisches (tierexperimentelles) Modell mit begrenzter Abwendungs-Möglichkeit auf die Humanmedizin, erlaubt aber doch eine grobe Abschätzung des Risikos.

Anmerkend sei erwähnt, dass in der heutigen Praxis der HBO Lungenschäden beim Menschen nicht beobachtet wurden. Für Dekompressionen oder für die Behandlung von leichten Dekompressionserkrankungen (DCS Typ I) sollte die Gesamt-Sauerstoffdosis rund 600 UPTD nicht überschreiten. Bei der Behandlung schwerer Dekompressionskrankheiten (DCS Typ II) gilt als tolerierbare Grenzdosis 1.400 UPTD.


MOD: Maximum Operation Depth

Die MOD ist die maximale Tauchtiefe, bei der ein Nitrox- oder anderes sauerstoffangereichertes Gemisch geatmet werden darf. Die MOD ist damit direkt abhängig vom maximal zulässigen pO2. Bei den meisten Verbänden (PADI, SSI, CMAS etc.) liegt der maximal erlaubte pO2 bei 1,4 bar – bei einigen wenigen anderen Organisationen auch bis 1,6 bar. Setzt man dies rechnerisch in die Praxis um, beträgt die maximal erlaubte Tauchtiefe mit Nitrox 32 (EAN32) damit allerhöchstens 40 Meter, da der pO2 hier 5 x 0,32 = 1,6 bar beträgt. Um auf der sicheren Seite zu sein, sollten für den Freizeittaucher jedoch 1,4 bar genug sein – egal über welchen Verband man nun taucht. Zur Errechnung der erlaubten Tauchtiefen oder des "best mix" sollte man sich nicht nur auf Computerprogramme verlassen, sondern unter Umständen mit Stift und Papier eine eigene akkurate Rechnung erstellen und sie bestmöglich von einem erfahrenen Taucher gegenrechnen lassen.

CNS: "Central Nervous System"

CNS (englisch: central nervous system) bedeutet Zentral-Nerven-System. Da Sauerstoff nach einer gewissen Zeit das ZNS angreift, wurden Grenzwerte für die Dauer der Exposition berechnet.

Ein Sauerstoffkrampf wird umso wahrscheinlicher, je länger man ein sauerstoffangereichertes Gemisch einatmet. Dementsprechend werden Sauerstoffkrämpfe bei HBO-Patienten in einer Druckkammer meistens auch im letzten Sauerstoffzyklus beobachtet.

Die erlaubten Zeiten zur Vermeidung einer Sauerstoffvergiftung werden im Tauchsport nicht anhand der UPTD errechnet. Dafür gibt es Tabellen, die sich an den NOAA-Grenzwerten orientieren (NOAA = National Oceanic & Atmospheric Administration). So darf man zum Beispiel bei einem pO2 von 1,6 bar maximal 45 Minuten am Stück tauchen.