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Vor der Nordseeküste, tief unter der glänzenden Oberfläche, liegt ein stählernes Zeitzeugnis aus einer Epoche der großen Kriege und der kleinen, fast vergessenen Heldengeschichten: die HMS Nottingham. Über ein Jahrhundert lang war ihr genauer Verbleib unbekannt, bis ein Team von Taucherarchäologen und technischen Spezialisten im Rahmen von Project Xplore ein außergewöhnliches Unterfangen wagte – und ein Stück Marinegeschichte für immer veränderte.
Die Entdeckung der Nottingham ist nicht nur ein Glücksfall für Historiker. Für uns Taucher ist sie ein Symbol dafür, wie tief – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – unser Sport mit der Vergangenheit verwoben sein kann.
Die Geschichte eines Spähers
Die HMS Nottingham war ein sogenannter „Scout-Kreuzer“, gebaut für Geschwindigkeit und Aufklärung. Vom Stapel gelassen 1913 als Teil der Birkenhead-Klasse, war sie eine Antwort der Royal Navy auf den sich beschleunigenden Rüstungswettlauf zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit einer Länge von 117 Metern, zwölf 102-mm-Geschützen und einer Höchstgeschwindigkeit von über 25 Knoten war sie schnell, wendig – und hochgradig gefährdet.
Im August 1916 endete ihre Laufbahn abrupt, als sie auf dem Rückweg von einem Konvoi von deutschen U-Booten torpediert wurde. Zwei Einschläge versenkten das Schiff innerhalb weniger Minuten. 38 Männer verloren ihr Leben. Seitdem galt sie als verschollen.
Die letzten Jahre verdichteten sich Hinweise, dass sie bei Schottland liegen könnte. Doch erst im Frühjahr 2025 wurde das Wrack durch ein interdisziplinäres Team aus Meeresforschern, Historikern und spezialisierten Tech-Tauchern verifiziert – in über 100 Metern Tiefe.
Ein technischer Tauchgang mit Geschichte
Für die Beteiligten war sofort klar: Dieses Wrack ist kein gewöhnliches Ziel. Es liegt in einer Tiefe, die selbst für erfahrene technische Taucher anspruchsvoll ist. Die Kombination aus Trimix, Rebreather-Systemen und exakter Tauchzeitplanung war zwingend notwendig. Mehrere Monate Vorbereitung, Simulationen und Testtauchgänge gingen der eigentlichen Dokumentation voraus.
Und doch: Was die Taucher am Grund vorfanden, übertraf alle Erwartungen. Der Rumpf ist nahezu vollständig erhalten. Besonders auffällig sind die zwei Buggeschütze, die bis heute ihre Silhouette in die Dunkelheit recken – wie in Habachtstellung. Die Brücke ist eingestürzt, aber viele Decksdetails sind klar erkennbar. Metallteile sind überkrustet, aber nicht zerfallen. Kabelschächte, Leitern, Bullaugen – alles ist da, wo es vor über 100 Jahren war.
Die Sichtweiten vor Ort betragen je nach Jahreszeit bis zu 25 Meter. Die Bedingungen waren während der Dokumentationsphase nahezu ideal. Die Strömung ist gering, die Temperatur moderat – perfekte Voraussetzungen für detaillierte Aufnahmen mit 3D-Fotogrammetrie, ROV-Videos und Handkameras.
Ein stiller Ort mit großer Wirkung
Was dieses Wrack so besonders macht, ist nicht nur sein Zustand, sondern auch die emotionale Wirkung, die es auf die Besucher ausübt. Die HMS Nottingham ist kein „abgetauchtes Objekt“. Sie ist ein Mahnmal. Die Vorstellung, wie dieses Schiff in wenigen Minuten in die Tiefe riss, was es an Leben und Geschichte trug, macht etwas mit jedem Taucher, der sich ihr nähert
.
Anders als viele Wracks, die durch Schlechtwetter oder Zufall entdeckt wurden, war hier jeder Schritt geplant. Die Crew von Project Xplore hat mit beeindruckender Präzision gearbeitet. Statt auf spektakuläre Hebeaktionen zu setzen, entschieden sich die Wissenschaftler für digitale Erhaltung. Das Wrack wird nicht geborgen – es wird bewahrt. Für künftige Generationen, digital, als 3D-Modell, virtuell begehbar.
Taucherischer Zugang: Zukunft offen
Aktuell bleibt die HMS Nottingham ein wissenschaftliches Projekt. Für normale Taucher ist sie nicht zugänglich – weder logistisch noch genehmigungstechnisch. Aber: Die Diskussion über einen kontrollierten Zugang für erfahrene technische Taucher hat bereits begonnen. Denkbar ist ein Genehmigungsmodell in Zusammenarbeit mit den Behörden und Forschungseinrichtungen.
Was jetzt schon feststeht: Dieses Wrack ist ein Meilenstein. Es verbindet technische Exzellenz mit Respekt für Geschichte. Für viele im Team war der Tauchgang zur Nottingham einer der emotionalsten ihrer Karriere.
Fazit: Mehr als ein Wrack
Die HMS Nottingham ist ein Symbol für das, was technische Tauchgänge sein können: Reisen in die Vergangenheit, fordernd, präzise und zutiefst berührend. Wer sich mit Geschichte unter Wasser auseinandersetzt, wird hier mehr finden als Schiffsmetall – man findet Spuren von Leben, Krieg, Verlust und Pioniergeist.
Und vielleicht – irgendwann – wird es möglich sein, diesen Ort als Taucher selbst zu besuchen. Bis dahin bleibt uns die Dokumentation, die Bilder, die digitalen Modelle – und die Gewissheit, dass unter Wasser noch immer Geschichten darauf warten, erzählt zu werden.
Danke an Steffen Scholz für die Wahnsinns-Fotos zu diesem Projekt - und an Alexandra Pyschina, die als einzige Frau im Projekt hier wacker für die gute Beleuchtung gesorgt hat!