Delfintherapie. Sinnvoll oder Sinnlos?

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27.12.2013 15:05
Kategorie: Diverses


Ein kleines, enges Bassin mit verschmutztem Wasser, viel zu wenig Platz für viel zu viele Delfine, katastrophale Haltungsbedingungen. So oder so ähnlich stellen sich viele Menschen eine Delfintherapie vor; von ihrem Nutzen ganz zu schweigen. Was aber ist wirklich dran an diesen Vorurteilen?

Bericht von Sarah Wünsche

Er wirkt wie ein ganz normaler Neunjähriger. Mit einer Tauchermaske gleitet er durch das türkisfarbene Wasser. Seine Augen strahlen, er lacht. Aber Phil ist kein normaler Junge; er ist schwerstbehindert.

Rückblick: Nach einer völlig normalen Schwangerschaft ergaben sich bei Phils Geburt Komplikationen. Es kam zu einem Geburtsstillstand, die Geburtszange musste eingesetzt werden. Dadurch erlitt er massive Verletzungen an seinem Kopf. Phil musste mehrmals reanimiert werden. Es gab eine Verzögerung in der Sauerstoffversorgung, sein Gehirn wurde nicht mehr ausreichend versorgt. Nach einigen Wochen stand die erschütternde Diagnose fest: Phil leidet an einer spastischen Cerebralparese.

Für die Eltern Nicole Recke (37) und Mirko Eichblatt (37) aus Hamburg hat sich das Leben seit Phils Geburt drastisch verändert. Nicole brach ihr Jurastudium ab und widmet sich seitdem ganz dem Leben ihres Sohnes. Der Alltag besteht aus einer Unzahl von Therapien: Mehrmals wöchentlich geht Phil zur Physiotherapie, zusätzlich Therapiestunden bei Logopäden, Ergotherapie, Osteopathie, therapeutisches Reiten. Trotz aller Bemühungen machte Phil nur wenig Fortschritte. Mit Hilfe von Spenden und durch eisernes Sparen haben Nicole und Mirko ihrem Sohn eine Delfintherapie auf der Karibikinsel Curacao ermöglicht: ohne Erwartungen, aber mit enormen Erfolg.

Zusammen stehen wir am Rande einer riesigen Naturbucht, umsäumt von ein paar wenigen Felsen. Im türkisfarbenen Wasser der Meereslagune spielen mehrere Delfine. Immer wieder suchen sie den Kontakt zu "ihrem" Kind – völlig freiwillig. So auch Lina, Phils Delfin. Plötzlich ergreift Nicole aufgeregt meine Hand, ruft ihren Mann herbei. "Seht nur, Phil strampelt mit den Beinen und schwimmt richtig! Das hat er noch nie geschafft." Tränen der Freude schießen ihr in die Augen. Das Glücksgefühl ist mehr als spürbar und wirklich ergreifend. Das Curacao Delfin-Therapiezentrum CDTC bietet seit 2004 Therapien für eine Vielzahl von Erkrankungen wie Down Syndrom, Cerebralparesen, Autismus und psychischen Problemen an. Die Behandlungserfolge sind groß: Allein schon das Element Wasser bietet einen enormen Vorteil. Losgelöst von allen Zwängen oder Erwartungen wirkt es für die Betroffenen nicht wie eine Therapie. Sie spielen.

Auf dem Gelände des Seaaquariums Curacao entstand das Therapiezentrum in einer Naturbucht. Keine gekachelten engen Pools, dafür kontinuierlicher Wasseraustausch durch Brandung und Strömung. Sogar Fische schwimmen durch das Wasser, da es weiterhin einen Zugang zum offenen Meer gibt. Die Tiere spielen, jagen, springen. Zärtlich stupst ein Delfin sein Kind mit der Nase an und animiert es, ihn zu streicheln, sich festzuhalten, sich zu bewegen.

In der griechischen Mythologie galten Delfine als magische Wesen. Hier auf Curacao erkennt man, wieso. "Delfine sind wahnsinnig empathisch und wissen instinktiv, wie sie mit dem jeweiligen Kind umgehen müssen", sagt Esther Kooijman, Cheftrainerin des CDTC. Sie arbeitet hier bereits seit 2004 und kennt alle Tiere.



"Jedes Tier ist anders, wie auch wir Menschen unterschiedlich sind. Daher arbeiten wir hier alle sehr eng zusammen. Jedes Kind bekommt sein individuelles Tier, welches ihn während der gesamten Therapie begleitet." Neben dem Delfin wird jedes Kind von einem eigenen Therapeuten, dessen Assistenten sowie dem Delfintrainer betreut. Die Therapie ist strukturiert und besteht aus einer Kombination aus Übungen im Raum, Zeit im Wasser und Übungen am Trockendock.

Spielerisch lernen die Kinder zu kommunizieren und auf Dinge zu zeigen. Ihr Selbstbewusstsein wird gestärkt, sie können endlich Wünsche äußern. Heike Ervenich, Cheftherapeutin im CDTC, zieht ein positives Resümee. Der eigentliche Behandlungserfolg zeige sich meist erst zwei bis drei Wochen nach Ende der Therapie; die Kinder benötigen eine Weile, um alles zu verarbeiten. Die Erfolgsquote ist enorm: Rund 70 Prozent der Patienten kommen wieder. Das liegt nicht nur an den Fortschritten der betroffenen Kinder. Das CDTC versteht sich als Familientherapie. So werden für die Eltern Workshops und Konsultationen angeboten. Auch ein Familientherapeut kann in Anspruch genommen werden.

Bei den Geschwisterprogrammen dürfen die Geschwister ebenfalls mit den Delfinen schwimmen, erleben viel, haben einmal nicht das Gefühl "zu kurz zu kommen". Ich frage nach Heikes schönstem Erlebnis. Sie lacht. "Ich habe jeden Tag schöne Erlebnisse" bekomme ich zur Antwort. "Aber zwei waren herausragend. Ein achtjähriges stummes Mädchen aus Belgien sagte während der Therapie zum ersten Mal in ihrem Leben 'Mama'. Ein kleiner dreijähriger Junge hat hier angefangen zu laufen." Stößt die Therapie in der Gesellschaft auch auf Ablehnung? "Ja, auf jeden Fall", so Heike. "Es gibt in unserem Bereich leider viele schwarze Schafe, die eine 'Therapie' anbieten. Die Haltungsbedingungen dort sind nicht artgerecht, teils katastrophal, die Therapien ohne Konzepte. Wenn sich jemand für eine Delfintherapie entscheidet, sollte er sich vorher über die genauen Bedingungen dort erkundigen und nach zertifizierten Instituten Ausschau halten."

Phil war bereits mehrmals auf Curacao. Als er mit vier Jahren zum ersten Mal die Therapie machte, konnte er kaum sprechen. Er lernte Gegenstände greifen, seine motorischen Fähigkeiten zu verbessern und das Wort "Mama" aussprechen! Die Therapieerfolge halten vier bis sechs Monate an. Keine seiner unzähligen Therapien zu Hause erzielt annähernd gute Erfolge. Dies bestätigen seine behandelnden Therapeuten, die vom Nutzen der Delfintherapie überzeugt sind. Aber so positiv die Delfintherapie auch zu sein scheint: Alles hat seinen Preis. Und der ist mit 7.350 $ nicht gerade gering. Der Betrag deckt lediglich die Therapiekosten. Zusätzlich müssen die Flüge und die Unterkunft bezahlt werden. So kommt eine Familie für eine zweiwöchige Therapie auf umgerechnet knapp 10.000 €. Ein kleines Vermögen? "Ja", sagt Nicole. "Aber jeder Cent ist es uns wert. Es ist jedes Mal wie Magie und eine enorme Erleichterung im Alltag. Auch wir kommen hier endlich mal zur Ruhe, können Zeit mit unserer Tochter und Zeit als Paar verbringen."

Finanzielle Unterstützung gibt es kaum. Hier versucht Dolphin Aid e.V. mit Spenden zu helfen. Kommt seine Familie mit Phil nächstes Jahr wieder nach Curacao? "Nein, nächstes Jahr nicht. Wir sind seit 20 Jahren ein Paar, wollen seit 10 Jahren heiraten. Wir verschieben die Hochzeit immer wieder, um das Geld für Phils Delfintherapie zu nutzen, aber wir haben uns fest vorgenommen, dieses Mal hart zu bleiben und endlich unsere ersehnte Hochzeit zu feiern." Nach einer letzten herzlichen Umarmung vom gesamten Team geht es bald wieder nach Hause. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Und mit dem guten Gefühl, dass auf Curacao (fast) alles richtig gemacht wird.

Für Phil wurde bei Dolphin-Aid ein Spendenkonto eingerichtet. Jeder Euro hilft. Spendenquittungen werden von Dolphin-Aid ab einer Spende von 200€ ausgestellt.
Konto-Nr: 2000 24 24 BLZ: 30050110 Verwendungszweck: Phil Recke "Therapie Curacao"

Weitere Informationen:


Curacao Delfin-Therapiezentrum CDTC
Dolphin-Aid e.V.
Sea Aquarium Curacao
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Cerebralparese