Bärtierchen. Let me be your Teddybear

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01.08.2012 13:51
Kategorie: Biologie


Sie überleben getrocknet und können so Temperaturen von über 100 °C überstehen oder man kann sie in flüssigen Stickstoff bei circa minus 200 °C einfrieren. Sie überstehen radioaktive Strahlendosen, die eintausend Mal höher sind, als ein Mensch überleben würde. Man hat sie im Vakuum des Weltalls ionisierender Strahlung ausgesetzt und sie überlebten trotzdem. Bärtierchen sind faszinierende Lebewesen, die man fast überall auf der Erde findet. Außerdem sehen sie so putzig aus!

Eine Exkursion in den Mikrokosmos mit Harald Mathä

"Wasserbären", da hat der Quedlinburger Pastor Johann August Ephraim Goeze damals, im Jahre 1772, wohl etwas übertrieben, als er die winzigen Tierchen unter seinem Mikroskop entdeckte. Er beschrieb seine Entdeckung so: "Seltsam ist dieses Thierchen, weil der ganze Bau seines Körpers außerordentlich und seltsam ist, und weil es in seiner äusserlichen Gestalt, dem ersten Anblicke nach, die größte Aehnlichkeit mit einem Bäre im Kleinen hat. Dieses hat mich auch bewogen ihm den Namen des kleinen Wasserbärs zu geben. [...] Man fürchte sich indessen nicht, auch diese Raubthiere der unsichtbaren Welt zu betrachten."

Machen wir es also wie bei den Moostierchen und nennen sie nicht Moostiere, sondern Moostierchen. Denn diese Deminutivsuffixe, also Verniedlichungsformen, passen perfekt zu diesen kleinen, tapsigen Wesen.

Aussehen


"Süüüß!" So ist die Reaktion von fast jedem, der seine Augen an die Okulare eines Mikroskops gepresst hat und zum ersten Mal ein Bärtierchen sieht. In der Vergrößerung sind Bärtierchen ja wirklich putzig und erinnern entfernt an einen Teddybären. Am pummeligen Körper sitzen die Gliedmaßen als Stummel. An diesen finden sich bei landlebenden Tieren scharfe Krallen. Bei im Wasser lebenden Wasserbären sind dies bizarre, klebende Tatzen (Haftlappen).

Tardigrada bedeutet, aus dem Lateinischen übersetzt, etwa "langsamen Schrittes", und so wie ein kleiner Bär gemütlich durch den Wald tapst, so bewegen sich die Tierchen auch fort. Die Beinpaare können gemeinsam oder einzeln benutzt werden. Zuschaltbarer Allradantrieb mit ASR sozusagen. Die Kralle an jedem Bein verleiht zusätzlichen Halt. So kraxeln die Tierchen behäbig auf Mooskissen herum oder erkunden die Unterwasserwelt. Die schnellste jemals experimentell gemessene Geschwindigkeit eines Wasserbären lag bei 11,6 Zentimeter pro Stunde. Da fragt man sich doch wirklich, was Biologen in der Arbeit tun... Bärtierchenrennen veranstalten und Wetten abschließen, welches gewinnt?

Lebensraum


Bärtierchen hat man schon überall auf der Erde gefunden. Zwischen Nordpol und Südpol, von den Gipfeln der höchsten Gebirgszüge bis zu den Abyssalen der Tiefseegräben. Aber auch direkt vor unserer Haustür. Man muss nur nach ihnen suchen. Etwa 1.200 Arten wurden bisher entdeckt. 160 davon leben im Meer. Tardiologen (Bärtierchenforscher) schätzen aber, dass erst 10% aller Bärtierchenarten entdeckt wurden.

Man findet sie an Land besonders in Habitaten (Lebensräumen), die Wasser speichern. Besonders wohl scheinen sie sich in Flechten und Moosen zu fühlen, sie sind aber auch im Boden zwischen Wurzeln zu finden. In der Praxis sind in fast jedem Moospolster an Dachrinnen oder Steinen Bärtierchen zu finden.

Trotzdem heißen sie nicht Moostierchen, denn diesen Namen tragen schon die Bryozoen! Im Wasser entdeckt man sie im Schlamm oder als Teil der Sandlückenfauna.


Infobox "Bärtierchen"


Englisch: Water Bears, Moss Piglets ...
Stamm: Bärtierchen (Tardigrada)
Etwa 1.200 bekannte Arten, davon 160 im Meer
Größe: zwischen 0,05 und 1,5 mm
Aussehen: von farblos bis grün, orange oder rot
Lebensraum: Kosmopolit – überall auf der Erde zu finden
Verbreitung: vom Himalaya bis in den Marianengraben
Verwechslungsmöglichkeit: nicht wirklich, aber vielleicht allerhand mikroskopisch Kleines.
Falsch: Seebären und Moostierchen
Linktipp: Bärtierchenjournal
Wissenschaftliche Seiten: www.funcrypta.de, www.tardigradebarcoding.org



Zysten und Tönnchen: Beeindruckende Überlebensstrategien


Bärtierchen können sich in schlechten Zeiten in Zysten verwandeln. Sie ziehen die Beinchen ein und verringern ihre Größe auf etwa ein Drittel. Die Oberfläche verringert sich so auf etwa ein Zehntel. Dann überziehen sie sich mit mehreren Hautschichten. Sie können so über einen längeren Zeitraum überleben. Wenns dann wieder passt, sind sie in wenigen Stunden wieder die Alten. Wie frisch geschlüpft, quasi.

Häufiger- und dramatischer ist die Bildung der sogenannten "Tönnchen". Das sind wahre Überlebenskapseln, wenn die Umweltbedingungen sich einmal wirklich dramatisch verschlechtern. Beispielsweise, wenn totale Austrocknung droht und die Tiere ersticken würden, da ihre Atmung auf einen dünnen Wasserfilm auf der Haut angewiesen ist. Auch dazu verkleinern sich die Tierchen und schützen ihre Haut durch eine Schicht aus Lipiden. Die inneren Organe werden zurückgebildet, dann werden Stoffwechsel und Kreislauf auf null heruntergefahren. Dieses Notfallmanagement dauert mehrere Stunden. Danach kann man die Tönnchen in flüssigen Stickstoff baden, radioaktiver Strahlung aussetzten oder über den Siedepunkt von Wasser erhitzen – es ist ihnen egal.

Wenn sie unter günstigen Bedingungen wieder zum Leben erwachen, lachen sie zwar nicht darüber, aber viele, nicht alle, haben diese extremen Bedingungen überlebt! In allen Fällen scheint das Disacharid Trehalose eine Rolle als Gefrierschutzmittel zu spielen. Wie man sieht, kann Forschung ziemlich grausam sein.

Kann man sterben, wenn man schon tot ist?


Als "Leben" definiert man Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung. Haben sich Bärtierchen in ihr Tönnchenstadium eingeigelt, haben sie davon nichts mehr. Sie sind also nach dieser allgemein gültigen Definition: tot!

Bessern sich die Umgebungsbedingungen, und das kann nach 100 Jahren sein, so kehrt das Leben in die meisten wieder zurück. Aufwachen wäre hier der falsche Ausdruck, weil sie nicht geschlafen haben. Doch nicht alle Bärtierchen kehren ins Leben zurück. Sie bleiben tot – und das vermutlich für immer. Was geschah mit ihnen? Sind sie gestorben, während sie tot waren?

Von einem anderen Stern?


Temperaturen um den absoluten Nullpunkt von –273 °C ertragen. Dazu ionisierende Strahlung und die Luftleere des Weltraums überleben. Wen wundert es da, dass Anhänger der Panspermie-Theorie bald auf die Idee kamen, dass Bärtierchen vor endlos langer Zeit aus dem Weltall auf die Erde kamen, ja diese vielleicht sogar besiedelten? Nein, auch Tardigraden sind nicht unsterblich! Sie überleben die UV-C Strahlung im Weltall nicht, das zeigten Weltraumexperimente der Universität Stuttgart in Zusammenarbeit mit der ESA.

Fressen und Feinde


Bärtierchen lieben Algen und Mooszellen. Sie stechen die Zellen mit ihrem stilettförmigen Mundwerkzeug an und saugen den Inhalt aus. Aber sie schlürfen nicht nur Grünzeug: Auch Rädertierchen, Fadenwürmer und kleine Bärtierchen stehen auf ihrem Speisezettel. Andererseits werden die kleinen Bären auch gejagt: Milben, vielleicht aber auch Regenwürmer und Süßwasserkrebse haben sie zum Fressen gerne. Besonders unschön: Die Sporen mancher Pilzarten treiben im Darm der Bärtierchen aus. Die Hyphen (Pilzfäden) durchstoßen die Darmwand und verdauen dann das Opfer langsam von innen. Kein schöner Tod!

Fortpflanzung


So winzig sie auch sind: Bärtierchen können sich so fortpflanzen, wie wir es gerne öfter täten. Geschlechtlich! Sie besitzen dazu auch Werkzeuge, die den männlichen und weiblichen durchaus ähnlich sind. Die in älterer Literatur beschriebenen Möglichkeiten der Befruchtung sind sehr vielfältig, um nicht zu sagen stellungsreich. Man ist da schon fast geneigt von einem "Bärtierchen- Kamasutra" zu sprechen.
Neuere Forschungen zeigten aber, dass die Fortpflanzung der Tardigraden meist durch Selbstbefruchtung geschieht. Schade!

Fazit


Bärtierchen gehören zu den ungewöhnlichsten Tieren unseres Planeten. Ihre Fähigkeit, selbst unter allerwidrigsten Umweltbedingungen zu überleben, ist kaum fassbar. Bärtierchen faszinieren auch Wissenschaftler. Kleine Gruppen forschen weltweit an ihnen. Erst im Juli 2012 trafen sich in Portugal 77 Tardiologen aus aller Welt (mehr gibt es nicht), um sich auszutauschen – und vielleicht auch, um Bärtierchenrennen zu veranstalten ...






Lichtmikroskopische Bilder von Martin Mach, elektronenmikroskopische Aufnahmen: Dr. Ralph Schill/Uni Stuttgart