Für die Entsättigung von gelöstem (sagen wir der Einfachkeit halber) überschüssigem Stickstoff aus dem Gewebe gibt es zwei Kanäle:
(1) der Übergang ins Blut und die Abatmung über Alveolen - Lunge
(2) der Übergang in die Gasphase in Blasenkeime (Nuclei), die bereits im Gewebe vorhanden sind.
Neo-Haldane Modelle (auch 1-phasen-Modelle genannt wie z.B. Bühlmann-Hahn und der RDP) betrachten ausschließlich den ersten Mechanismus. Dabei findet die effektivste Gewebeentsättigung bei maximaler, aber noch erlaubter Übersättigung statt, weil der Druckunterschied zwischen Gewebe und Blut dort am größten ist und das Gewebe so am schnellsten entsättigt. Haldane bringt den Taucher also so nahe wie möglich an die Oberfläche, um die Dekompressionszeiten kurz zu halten.
Blasenmodelle (z.B. Thermodynamisches Modell, VPM, RGBM) beziehen auch den zweiten Mechanismus ein zur Berechnung der optimalen Dekompressionsstrategie (d.h. auf welchen Tiefen Stops stattfinden sollten). Dabei sind dreei Aspekte wesentlich:
(2.1) Im Gewebe existieren Blasenkeime mit unterschiedlichen Radien. Die Verteilung der Blasengrößen ist ungefähr exponentiell, d.h. es gibt sehr viele sehr kleine Blasenkeime und deutlich weniger große, die Anzahl der vorhandenen Blasenkeime fällt exponentiell mit ihrem Radius ab (experimenteller Befund von Yount et. al.).
(2.2) Blasenkeime wachsen nur dann, wenn ihr Radius einen bestimmten (kritischen oder Grenzradius genannten) Radius *überschreitet*. Blasenkeime mit kleinerem Radius als der Grenzradius nehmen keinen Stickstoff aus dem Gewebe auf, weil ihre Oberflächenspannung `dafür zu groß ist`. Blasenkeime, deren Radius größer ist als der Grenzradius wachsen bei der Entsättigung (=Auftauchen) an, und zwar (hauptsächlich) durch Aufnahme von Stickstoff aus dem Gewebe (Boyle-Mariotte bei Druckentlastung ist ggüb. dem Wachstum durch Mengenzunahme in die Gasphase vernachlässigbar. Sieht man in jedem Bierglas

). (experimenteller Befund (Laplace 18. Jh., Yount et al. für die Bestimmung kritischer Radien in Modellgeweben)).
(2.3) Symptome der Dekompressionskrankheit treten auf, wenn das zeitintegrierte Produkt aus Anzahl der Blasenkeime, die wachsen können und dem herrschenden Druckgradienten eine bestimmte Größe überschreiten (`critical volume hypothesis` = Hypothese).
Nun ist es so, daß der kritische Radius, ab dem Blasenkeime im Gewebe wachsen können, vom maximalen Umgebungsdruck, der während des Tauchgangs erzielt wurde, abhängt. Damit erzeugt man deutlich (exponentiell) mehr Blasenkeime, die wachsen können, wenn man tiefer taucht. Beim Auftauchen wachsen diese Blasenkeime an. Sie können wieder ins Gewebe entsättigen, wenn man Deep-Stops einlegt.
Grundsätzlich aber sind nach einem Tauchgang (egal welcher Tiefe) mehr Blasenkeime `angeregt`, d.h. haben den kritischen Radius überschritten, als vor dem Tauchgang (`excess bubbles`). Damit das Phasenintegral von (2.3) bei einem Wiederholungstauchgang trotzdem das `critical volume` nicht überschreitet, muß der erlaubte Gradient zwischen Gasspannung im Gewebe und Umgebungsdruck um einen Faktor reduziert werden. Dieser Faktor ist 1 für Tauchgänge, deren maximale Tiefe kleiner ist als die der vorherigen. (Aus: Wienke: Technical Diving in Depth, Best Publishing Company 2001, Flagstaff, AZ, Seite 303 Gleichung (71)).
In Wienkes RGBM sind Umkehrprofile erlaubt, werden aber mit dem oben dargestellten `Straf-Faktor` belegt. (wie oben von Scott angeführt).
Natürlich ist auch das RGBM nur ein Modell, welches die Wirklichkeit der Dekompression nur begrenzt abbildet bzw. die Regel, tiefe Tauchgänge zuerst durchzuführen als Input benutzt und modelliert. Die Mobilisierung manifester Blasen (hket) ist aber ziemlich sicher kein Grund, Umkehrprofile zu vermeiden, da die Boyle-Kompression beim 2. TG das bereits geschehene Blasenwachstum durch Phasenübergang aus dem ersten TG nicht mehr kompensieren kann.
Zum Schluß noch ein Zitat aus Powell: Deco for Divers (aquapress 2009):
`There is a false sense of security amongst divers that decompression is a well understood science an that decompression illness can easily be avoided if you stick to your decompression tables. This confidence is not shared by many decompression researchers. They realise that there is so much we still don`t understand.`
Guten Start ins Neue Jahr!